Handelsblatt - 03.03.2020

(やまだぃちぅ) #1
Robert Landgraf Frankfurt

V


iele Anleger trafen die heftigen Aus-
wirkungen des Coronavirus auf die Fi-
nanzmärkte völlig unvorbereitet. Das
ähnelt der Situation im Jahr 2007, als
faule Hypothekenkredite die jüngste
Finanzkrise auslösten. Jetzt trübt das Virus Sars-
CoV-2 die zuvor recht optimistischen Aussichten für
das laufende Jahr ein. Doch in China, dem Land, in
dem das Virus seinen Ausgang nahm, scheint sich
die Ausbreitung zu verlangsamen: Am Montag zähl-
te die Pekinger Gesundheitskommission 202 neue
Infektionen, am Vortag lag die Zahl der Neuerkran-
kungen noch bei 570. Analysten halten die Auswir-
kungen auf die dortige Wirtschaft und Aktienmärk-
te deshalb für begrenzt. Die Aktienkurse dort wa-
ren zuletzt stabiler als in anderen Teilen der Welt.
Die Experten machen sich unter anderem für An-
teilscheine der Handelsplattform Alibaba, des Inter-
netunternehmens Tencent, des Autobauers Geely
und des Arzneimittelforschers Tigermed stark. Kon-
sumwerte leiden dagegen.
„In einigen Branchen sind in China bereits wie-
der 80 bis 90 Prozent der Mitarbeiter zurück in den
Betrieben, die wiedereröffnet haben“, beobachtet

Charlie Linton, Fondsmanager bei Investec. Das
sollte die Wirtschaft wieder in Gang bringen, die zu-
vor deutlich gebremst war. Die Schweizer UBS hat
ausgerechnet, dass die Exporte in der chinesischen
Neujahrssaison um 70 Prozent unter dem Durch-
schnitt lagen. Bei Immobilien, Autoverkäufen und
Reisen betrage das Minus 60 bis 80 Prozent. Die
Konsumausgaben insgesamt ohne Autos fielen
rund 30 Prozent schwächer aus. Und Chinas Pro-
duktionsmanager-Index der Wachstumsindustrien
fiel im Februar auf 29,9, nachdem er im Vormonat
noch bei 50,1 gelegen hatte. Das war der niedrigste
Stand seit dem Start der Berechnung im Jahr 2014.
Insgesamt geht Mark Haefele, Chefstratege im
Wealthmanagement der UBS, von einem Wachs-
tumsrückschlag von einem bis zwei Prozentpunk-
ten im ersten Quartal des Jahres aus. Das werde
„das Wachstum für das Gesamtjahr bei den im In-
land erzeugten Gütern und Dienstleistungen, dem
Bruttoinlandsprodukt, auf vier bis fünf Prozent be-
grenzen“. Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr
wurden die Reisepläne vieler Chinesen während
der Neujahrsfeiertage durchkreuzt, was sich nega-
tiv auf Konsum und Ausgaben auswirkte.

Allerdings schmerzten China Wachstumsverluste
im ersten Quartal nicht so sehr wie in anderen Jah-
ren, da die ersten drei Monate ohnehin immer
schwach ausfallen wegen der vielen Feiertage, ur-
teilt Claus Born, Senior Vice President bei der
Fondsgesellschaft Franklin Templeton. Die Bevölke-
rung erwarte von der Regierung ein ähnlich hohes
Wachstum wie im vergangenen Jahr, als es bei rund
sechs Prozent lag. Daran werde sie gemessen. „Des-
wegen wird sie sicherlich alles tun, damit es auch
so kommt“, sagt Born.
Das erwartet auch Nikko Asset Management. Jeg-
liche durch den Ausbruch verursachte wirtschaftli-
che Verlangsamung in China werde daher nur vorü-
bergehend sein. Falls das Virus in der Region bis
Ende März unter Kontrolle gebracht wird, geht die
UBS nur von einer Wachstumsverlangsamung um
0,4 bis 0,7 Prozentpunkte aus. Wieder anspringen-
de Nachfrage, die Aufstockung der Läger und die
Unterstützung vonseiten der Politik werden nach
Einschätzung der Experten zu einer V-förmigen Er-
holung der Wirtschaft führen. Bei dem Virus Sars,
das 2002 in China auftrat, beschäftigten die Auswir-
kungen die Wirtschaft dort ein halbes Jahr lang.

Hoffnungswerte


in China


Das Coronavirus hat das Wachstum in der Volksrepublik geschwächt, nun erholt sich der Markt.


Analysten sehen Chancen in Aktien wie Alibaba, Tencent, Geely und Tigermed.


Angestellter in einem
Hema-Supermarkt in
Schanghai: Das Virus
verbreitet sich langsamer.
ddp/Bai Kelin/ChinaImages/Sipa USA

Alibaba
Aktienkurs in HK$

204,60 HK$

1.1.2020 2.3.
HB • Quelle: Bloomberg

224

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200

Private

Geldanlage

DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
34

Bereits jetzt versucht China alles, um die Aus-
wirkungen der Krankheit Covid-19 abzumildern.
Das gilt nach den Worten von Investec-Mann Lin-
ton für den Immobilienbereich und für Autos, wo
die Fahrerlaubnis für die Halter bestimmter Num-
mernschilder gelockert worden sei. Gleichzeitig
werde sichergestellt, dass kein Unternehmen we-
gen der Krankheit pleitegehe. Dem angeschlage-
nen Mischkonzerns HNA greift der Staat unter die
Arme. Durch den Ausbruch der Krankheit hat der
hochverschuldete Konzern offenbar Probleme, die
Verbindlichkeiten zu bedienen. In China und
Asien insgesamt stimulierten die Notenbanken die
Wirtschaft mit Zinssenkungen oder anderen Maß-
nahmen.
Die UBS erwartet eine weitere Senkung der Min-
destreservesätze der Banken von ein bis drei Pro-
zent. Das sind die Pflichtguthaben, die die Institute
bei der Notenbank halten müssen. Je niedriger sie
sind, desto mehr Geld können die Banken für Kre-
dite vergeben. Auch der Zins für mittelfristige Kre-
dite, den die Institute ihren bonitätsstärksten Kun-
den berechnen, soll fallen. Die Schweizer erwarten
eine Reduzierung um 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte.
Für Truman Du von Nikko ist es angesichts aller
Maßnahmen klar: „Jegliche durch den Ausbruch
verursachte wirtschaftliche Verlangsamung in Chi-
na wird nur vorübergehend sein. Bis zum Jahr 2021
sollte sich Chinas Sozialprodukt wieder auf eine
Wachstumsrate von 5,5 bis sechs Prozent erholen.“

Vorteil durch Wissenschaft
Ein wichtiger Grund für die Erholung sind auch die
Anstrengungen in Forschung und Entwicklung.
Asien gibt mehr Geld hierfür aus als Europa und
die USA zusammen, betont Linton von Investec. Al-
lein 600 000 Ingenieurwissenschaft-Absolventen
gebe es im Land im Vergleich zu 70 000 in den
USA. „Dieser intellektuelle Vorsprung bleibt beste-
hen“, sagt der Fondsmanager. Aus der Sicht von
Templeton-Mann Born wird der Onlinehandel vom
Ausbruch der Krankheit sogar profitieren. Immer
mehr Menschen wichen dorthin aus, um Waren
einzukaufen. Die Online-Handelsplattform Alibaba
werde einer der größten Profiteure sein, sagt der
Experte. Gut sollte das Geschäft auch für Anbieter
von Onlinespielen laufen. Tencent werde hiervon
profitieren.
China wird zudem mit Hochdruck darangehen,
seine medizinische Versorgung zu verbessern. Die
Qualität des Gesundheitsbereichs soll nach den
Worten von Investec-Mann Linton auf ein ver-
gleichbares Niveau wie in den USA gehoben wer-
den. Es wird deshalb viel Geld in Forschung und
Entwicklung neuer Medikamente in China ge-
steckt. „Auf Dauer ist es das Ziel, bei Arzneimitteln
international konkurrenzfähig zu werden“, sagt
Linton. Für ihn ist Tigermed eine attraktive Aktie in
diesem Bereich. Das Unternehmen bietet Auftrags-
forschung an.
Zu seinen favorisierten Aktien gehört auch Gee-
ly. Der Autobauer biete angesichts der mit der
Tochter Volvo geteilten Produktionsplattform im
Vergleich zu der heimischen Konkurrenz eine bes-
sere Qualität. Das Design der Fahrzeuge sei eben-
falls hochwertiger. Gleichzeitig würden die Läger
der auf Halde produzierten Autos deutlich abge-
baut. „Wir legen hier gegen den Trend an“, sagt
Linton. Für attraktiv hält er auch den Baumaschi-
nenhersteller Sany Heavy, der von der in der Bran-
che stattfindenden Konsolidierung profitiere. Dank
verbesserter Technologie könne Sany Heavy
Marktanteile von seinen internationalen Konkur-
renten wegnehmen.
Fest steht ohnehin trotz aller Corona-Ängste: Chi-
na bleibt ein wichtiger Aktienmarkt weltweit. Be-
reits heute habe das Land die höchste Gewichtung
in den Schwellenländer-Indizes, sagt Templeton-
Mann Born. Er ist sich sicher: „Mit der stärkeren
Berücksichtigung von Festlandaktien, den soge-
nannten A-Aktien, wird die Bedeutung chinesischer
Anteilscheine weiter zunehmen.“

Netflix und Co.

Profitieren mit Wohnzimmeraktien


D


ie vergangene Woche war die schlimms-
te an den US-Aktienmärkten seit der Fi-
nanzkrise 2018. Doch es gab nicht nur
Verlierer. Aktien von Unternehmen, die das
Homeoffice, den Verbleib im eigenen Heim oder
gar die Quarantäne angenehmer gestalten, kön-
nen sich derzeit gegen den Trend durchsetzen,
glauben Analysten.
Sie fallen in die Kategorie „Stay-at-Home-Ak-
tien“ und sind gerade jetzt besonders gefragt,
weil viele Großveranstaltungen abgesagt werden
und Mitarbeiter von zu Hause aus arbeiten kön-
nen oder gar müssen. Das Investmenthaus MKM
Partners hat einen Korb an Aktien zusammenge-
stellt, die sich dem Abwärtssog an den Börsen
entziehen könnten. Dazu gehören unter ande-
rem der Videokonferenzanbieter Zoom, Pelo-
ton, ein Anbieter von Fitnessbikes für zu Hause,
sowie der Streamingdienst Netflix.
„Wir haben versucht, jene Produkte, Dienstleis-
tungen und Unternehmen zu identifizieren, die
potenziell in einer Welt von Menschen in Quaran-
täne profitieren könnten“, erläuterte JC O’Hara
von MKM Partners. „Was würden Menschen tun,
wenn sie den ganzen Tag zu Hause eingesperrt
sind?“ Der Korb enthält insgesamt 18 Werte.
Hier eine Auswahl:

nZoom
Das Unternehmen aus dem kalifornischen San
José ist im April 2019 an die Börse gegangen und
hat sich auf Video- und Telefonkonferenzen spe-
zialisiert. Gerade jetzt, wo viele Unternehmen
ihren Mitarbeitern raten, von zu Hause aus zu
arbeiten oder Dienstreisen abzusagen und statt-
dessen Meetings per Videokonferenz abzuhal-
ten, ist Zoom stark gefragt.
„In den vergangenen 30 Tagen lagen die
durchschnittlichen Downloads pro Tag 90 Pro-
zent höher als in den 30 Tagen davor“, schreibt
Bernstein-Analyst Zane Chrane in einer aktuel-
len Studie. In diesem Jahr habe das Unterneh-
men bereits mehr neue Nutzer gewonnen als im
gesamten Jahr 2019.
In einer Woche, in der der breit gefasste Ak-
tienindex S&P 500 rund 13 Prozent verlor, lag
Zoom noch gut sieben Prozent im Plus. Doch
den Panikverkäufen am Freitag konnte auch der
Skype-Konkurrent nicht standhalten. Das Papier
verlor rund sieben Prozent. Aufs Jahr gesehen
liegt Zoom jedoch noch deutlich im grünen Be-
reich, mit einem Plus von rund 53 Prozent.

nSlack
Ähnlich ist die Büro-App Slack positioniert, die
Teamarbeit erleichtert, gerade auch, wenn Mitar-

beiter über verschiedene Standorte verteilt
sind. Slack ging ohne Verluste durch die
schlimmste Börsenwoche seit der Finanzkrise
und legte am Freitag noch mehr als drei Pro-
zent auf gut 27 Dollar zu. Seit Jahresbeginn ge-
wann das Papier damit 17 Prozent.
Anfang Februar bekam die Aktie nach einem
positiven Analystenbericht Rückenwind. Der
Bedarf an Software, die das Zusammenarbeiten
einfacher macht, wachse. „Slack ist die führen-
de Marke und setzt sich mit seinem Angebot
von der Konkurrenz ab“, schrieb Alex Zukin
von RBC Capital Markets. Er geht davon aus,
dass der Umsatz in den kommenden Jahren um
30 Prozent steigen könnte.
Zu Slacks Kunden gehören unter anderem
IBM und der Fahrdienstvermittler Uber. Das
Unternehmen hat allerdings noch einiges aufzu-
holen. Slack ging im Juni für knapp 39 Dollar
pro Aktie an die Börse. Davon ist das Start-up
heute noch ein Stück entfernt.

nNetflix
Was macht man, wenn man zu Hause bleiben
muss? Klar: Netflix schauen. Gerade jetzt, wo
Konzerte, Sportevents und andere Großveran-
staltungen abgesagt werden, ist der Streaming-
dienst besonders gefragt. Die Aktie gehört zu ei-
nigen wenigen, die in der vergangenen Woche
zulegen konnten. Der Streamingdienst „profi-
tiert eindeutig davon, dass die Menschen mehr
Zeit zu Hause verbringen“, schrieb Dan Salmon,
Analyst von BMO Capital Markets, am Freitag in
einem Report.
Der überraschende Wechsel an der Spitze
von Disney könnte Netflix ebenfalls zugutekom-
men: Disney war erst vor wenigen Wochen mit
einem eigenen Streamingdienst, Disney+, ge-
startet. Dass der langjährige CEO Bob Iger nun
seinen Posten aufgab und von Bob Chapek,
dem bisherigen Chef der Themenparks, ersetzt
wird, sorgte für Unruhe. Mit der sechsteiligen
Doku-Serie „Pandemic“, die seit Januar läuft,
hat Netflix zudem unerwartet einen Nerv ge-
troffen.

nPeloton
Wer in Zeiten des Coronavirus auch das Fitness-
studio meidet, der könnte bei Peloton landen.
Der Anbieter von teuren Fitnessbikes und Un-
terrichtsstunden im Abo ist ein weiterer Profi-
teur der Corona-Lage. Analysten der Invest-
mentbank Macquarie loben die hohe Qualität
der Produkte und die starke Marke und haben
ein Kursziel von 38 Dollar – 42 Prozent mehr als
der Schlusskurs vom Freitag.
Scott Galloway, Professor der New York Uni-
versity, der den Börsengang von Peloton im
September eng verfolgt hat, verweist zudem auf
hohe Margen und wiederkehrende Umsätze
durch die Kurse, die Kunden im Abo bestellen
können.

nGrubhub
Das Coronavirus könnte dem angeschlagenen
Essenslieferdienst Grubhub einen willkomme-
nen Auftrieb liefern. Die Aktie war Ende 2019
nach hohen Verlusten eingebrochen, gehört
nun jedoch zu den Gewinnern der vergangenen
Woche. Tom Forte vom Analysehaus D.A. Da-
vidson geht davon aus, dass Grubhub im ersten
und im zweiten Quartal davon profitieren wird,
dass Nutzer sich lieber Essen nach Hause lie-
fern lassen, statt ins Restaurant zu gehen.
„Das könnte die kurzfristigen Umsätze stei-
gern“, schrieb er an seine Kunden. Ähnlich
sieht es auch für Blue Apron aus, das krisenge-
schüttelte Start-up, das Rezepte und Zutaten
zum Selbstkochen liefert. Die Aktie hat seit dem
Börsengang 2017 mehr als 95 Prozent an Wert
verloren, konnte vergangene Woche jedoch
leicht zulegen.

Im Trend: Daheim
bleiben und
Streamingdienste
nutzen.

Bloomberg

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PROZENT
weniger Exporte als
im Durchschnitt wur-
den während der chi-
nesischen Neujahrs-
saison verzeichnet.

Quelle: UBS

Private Geldanlage


DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
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