Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

A


ls Saskia Esken in Vilshofen auf die
Bühne steigt, ist die flammende
Aschermittwochsrede bereits gehal-
ten: von Natascha Kohnen, der baye -
rischen SPD-Landesvorsitzenden. Sie
sprach kurz, mitreißend, die Stimme schon
mal vor dem Überschlag. Die Genossen
im Wolferstetter Keller folgten gespannt.
Am Ende donnernder Applaus.
Nun also Esken, die Bundesvorsitzende
der SPD. Sie legt einen dicken Stapel Papier
auf das Pult. Alles ist vorformuliert, manche
Sätze sind mit grünem Leuchtstift markiert.
Esken spricht eine Stunde lang, aber die
Rede nimmt niemals Fahrt auf, sie zerfasert,
das Gemurmel im hinteren Teil des Saals
schwillt an. Hinterher kann kaum ein Ge-
nosse sagen, worüber Esken gesprochen
hat. »Nichts hängen geblieben«, sagt Fran-
cesco Abate, ein Landesvorstandsmitglied
der Partei. »Mir fehlen die konkreten An-
sagen. Sie hat sich immer so gewendet.« Er
macht eine Wellenbewegung mit der Hand.
Knapp drei Monate stehen Saskia Esken
und Norbert Walter-Borjans nun an der


Spitze der SPD. Ihren Sieg verdanken sie
einem Aufstand der Mitglieder gegen die
Parteielite, einer Sehnsucht nach einem
Neuanfang. Doch bislang wissen sie mit
ihrem Amt wenig anzufangen. Ein Kurs
ist kaum sichtbar.
Das Vakuum an der Spitze füllen der-
weil andere, Fraktionschef Rolf Mütze-
nich, 60, etwa und vor allem General -
sekretär Lars Klingbeil, 42. Eigentlich
soll ein Generalsekretär die Partei orga-
nisieren und den Vorsitzenden dienen.
Klingbeil hingegen prägt derzeit wie kein
zweiter Genosse das Erscheinungsbild
der SPD. Er attackiert CDU und FDP,
schwört die Partei auf Geschlossenheit
ein und gibt die Richtung vor. Während
Esken und Walter-Borjans erfolglos ihre
Rolle suchen, übernimmt der General -
sekretär die Führung. Das macht ihn zum
heimlichen Vorsitzenden.
Zu beobachten war das auch zu Beginn
der Woche, als CDU-Chefin Annegret
Kramp-Karrenbauer heftig über die SPD
schimpfte. Die Vorwürfe, ihre Partei gren-
ze sich nicht klar von der AfD ab, seien
falsch. Es handle sich um eine »Diffamie-
rungs- und Schmutzkampagne«. Ziel des
Angriffs der CDU-Chefin waren nicht
etwa die beiden von der Doppelspitze,
sondern Klingbeil. Der SPD-Generalsekre-
tär solle seine Attacken beenden. Oder
»die Konsequenz ziehen und seine Partei
auffordern, diese Regierung zu verlassen«.
Dass eine Parteivorsitzende sich so aus-
giebig mit dem Generalsekretär einer an-
deren Partei beschäftigt, ist selten. Im
politischen Geschäft wird Wert auf Hie -
rarchie gelegt. Eigentlich hätte der Gene-
ralsekretär der CDU auf Klingbeil reagie-
ren müssen.
An Esken und Walter-Borjans arbeitet
sich der politische Gegner zurzeit seltener
ab. Nach ihrem überraschenden Sieg im
Mitgliederentscheid zogen sie unvorberei-
tet ins Willy-Brandt-Haus ein. Esken hatte
bisher in den hinteren Regionen des Bun-
destags gesessen, die politische Karriere
von Walter-Borjans schien schon beendet
zu sein. Nun sollten sie plötzlich die Nach-
folger von Kurt Schumacher, Willy Brandt
oder Gerhard Schröder geben.
Doch sie hatten weder ein Team noch
einen Plan. Den Parteitag Anfang Dezem-
ber überstanden sie noch ohne größere
Pannen. Doch spätestens zum Jahreswech-
sel zeigte sich ihr Mangel an Professiona-
lität und Erfahrung. Hektisch und unkoor-
diniert zündeten sie in Interviews ein wah-
res Feuerwerk an Vorstößen. Es ging um
Bodenwertzuwachssteuer, Cannabis-Frei-
gabe, Tempolimit oder höhere Renten -
beiträge für Gutverdiener. Sie streuten so
viele Botschaften gleichzeitig, dass keine
davon hängen blieb.
Die anderen Genossen aus der Partei-
spitze reagierten entsetzt. Zu kleinteilig

36 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Deutschland

Der Generalvorsitzende


KarrierenWährend das Führungsduo blass bleibt und oft verspottet
wird, setzt Generalsekretär Lars Klingbeil Akzente.

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
Fraktionschef Mützenich
Respekt über die Lager hinweg

HANNES JUNG / DER SPIEGEL
Sozialdemokrat Klingbeil: Das Vakuum an der Spitze füllen
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