Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
SPIEGEL: Herr Gabriel, für wen haben Sie
Ihr neues Buch geschrieben?
Gabriel:Ich habe es in gewisser Weise für
meine Kinder geschrieben*. Das kommen-
de Jahrzehnt wird über vieles entscheiden.
Mich treibt wie viele Eltern um, wie wohl
meine Töchter dann leben werden. Eine
von ihnen wird dann gerade volljährig. Ich
neige wirklich nicht zur Dystopie, aber
jetzt denke ich doch oft: Mensch, was ist
hier im Land bloß los?
SPIEGEL: Sie sind kürzlich 60 geworden.
Gabriel:Ich gebe zu, dass das ein heftiger
Einschnitt für mich war. Ich habe zum ers-
ten Mal ernsthaft über die Endlichkeit des
eigenen Lebens nachgedacht. Was ist,
wenn ich nicht mehr da bin? Was ist das
für ein Land, in dem meine Kinder leben
werden, wenn sie so alt sind wie ich?
SPIEGEL: Was macht Ihnen Sorgen? Sie
beschreiben Deutschland als lethargisches
Land, als Land in Trance ...
Gabriel:Meine Sorge ist, dass wir, gerade
weil wir hier verglichen mit vielen anderen
Teilen der Welt auf der berühmten »Insel
der Seligen« leben, nicht merken, wie dra-
matisch sich alles verändert, was seit Jahr-
zehnten unseren Erfolg ausgemacht hat.
Unser Erfolgsmodell, die exportorientierte
Wirtschaft, ist zur Achillesferse geworden
in einer Welt, die sich in Teilen entglobali-
siert. Die Spannungen der Weltwirtschaft
treffen uns mehr als alle anderen. Und
noch viel mehr trifft uns, dass große Teile
unserer industriellen Wertschöpfung auf
die Datenplattformen wandern – und die
beherrschen fünf amerikanische und dem-
nächst zehn chinesische Unternehmen.
Wenn wir nicht aufpassen, werden wir
vom Industrialisierer der Welt zur verlän-
gerten Werkbank.
SPIEGEL:Wo braucht es mehr Mut?
Gabriel:Vor allem in der politischen Füh-
rung. Sie muss Mut machen, statt sich
nur mit sich selbst zu beschäftigen. Die
nächsten zehn Jahre werden entschei-
dend, wenn es darum geht, welche Rolle
Deutschland und Europa in der Welt
spielen. Ob wir noch eine deutsche
Autoindustrie haben, ob wir den Klima-
schutz schaffen, Europa zusammenhalten,


  • Sigmar Gabriel: »Mehr Mut! Aufbruch in ein neues
    Jahrzehnt«. Herder; 336 Seiten; 25 Euro.


das große Problem der Migration bewäl -
tigen.
SPIEGEL: Was muss getan werden?
Gabriel:Wir sollten tun, was die ganze
Welt von uns fordert: viel mehr investie-
ren. Für mich war das beeindruckendste
Foto des vorigen Jahres die Eröffnung des
Pekinger Flughafens, geplant, gebaut, er-
öffnet in vier Jahren. Wenn der Flughafen
in Berlin je eröffnet wird, ist er am Tag
der Eröffnung ein Architekturmuseum.
Und das ist nur ein Beispiel von vielen.
SPIEGEL: Demokratische Staaten sind also
weniger effektiv als Autokratien?
Gabriel:Die Alternative kann doch nicht
sein, entweder so langsam zu sein wie
Deutschland oder so undemokratisch wie
China. Dazwischen gibt es viele Möglich-
keiten. Dafür müsste man aber den Mut
haben, das deutsche Planungsrecht zu ver-
ändern. Für Vorhaben, bei denen das Ge-

meinwohl überwiegt, sollten wir die Wi-
derspruchsmöglichkeiten einschränken.
Wir müssen in Deutschland wieder mehr
»Mensch ärgere dich nicht!« spielen statt
»Malefiz«. Der Schnellste muss gewinnen
und nicht der, der allen anderen die meis-
ten Steine in den Weg legt.
SPIEGEL: In Ihrem Buch ist ein großes Ka-
pitel Ihrer Partei und dem Umgang der
SPD mit ihrem Spitzenpersonal gewidmet.
Ist die SPD eine herzlose Partei?
Gabriel:Nein. Die SPD ist eine Partei mit
viel Herzblut und Leidenschaft. Ich ver-
danke es sozialdemokratischer Politik,
dass ich etwas aus meinem Leben machen
konnte. Nur weil das Ende dann etwas –
nennen wir es »rustikal« war, darf man
doch nicht alles Gute vergessen, was vor-
her war.
SPIEGEL: Aber die SPD geht schon gna-
denloser mit ihrem Spitzenpersonal um
als andere Parteien?

Gabriel:Die CDU scheint sich in dieser
Hinsicht gerade zu »sozialdemokratisie-
ren«, was kein gutes Zeichen ist. Aber Sie
haben schon recht: Während es bei den
Konservativen zumindest in der Vergan-
genheit immer darum ging zu regieren,
geht es in den politischen Parteien links
der Mitte viel zu oft ums Rechthaben. Und
wenn man nicht recht bekommt, wird
schnell der »Wohlfahrtsausschuss« zusam-
mengerufen ...
SPIEGEL: ... jenes Gremium, das während
der Französischen Revolution entschied,
wer unter die Guillotine kommt.
Gabriel:Gott sei Dank endet es heute
anders. Aber wir gehen untereinander
manchmal schlimmer miteinander um als
mit dem politischen Gegner.
SPIEGEL: Sie schreiben von böswilligen
und niederträchtigen Durchstechereien,
dass sich die »Demütigungsversuche«
nach Ihrem Rücktritt fortgesetzt hätten.
Gabriel:Vermutlich können alle meine
Vorgänger und Nachfolger im Amt des
SPD-Vorsitzenden davon ein Lied singen,
und ich habe es ja verhältnismäßig lange
ausgehalten. Aber es gab schon ein paar
Erfahrungen, wo ich dachte: Donnerwet-
ter, so bist du mit deinem Vorgänger nicht
umgegangen.
SPIEGEL: Parlamentspräsident Wolfgang
Schäuble und Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier haben Sie zum Ab-
schied zu einem Gespräch eingeladen.
Gabriel:Von meiner Fraktion habe ich im-
merhin im Geschäftsgang ein Schreiben
mit der Bitte erhalten, doch meine Nach-
sendeadresse dazulassen. Ich fand das
irgendwie lustig und einen letzten Beleg
dafür, dass es Zeit ist zu gehen.
SPIEGEL: Sie beschreiben das Gefühl,
»häufig genug weder wirklich respektiert
noch geachtet« worden zu sein.
Gabriel:Bei mir ist das noch relativ glimpf-
lich abgegangen. Aber denken Sie daran,
welche Verletzungen Kurt Beck erlitten
hat, wie sich Martin Schulz missbraucht
gefühlt hat. Oder wie bis heute über Ger-
hard Schröder geredet wird. Manchmal
habe ich gedacht, dass in der SPD so viel
über Solidarität geredet wird, weil man sie
im politischen Alltag so oft vermisst.
SPIEGEL: Was ist Ihr Anteil daran, dass
die Partei Sie am Ende nicht mehr wollte?

38 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020

Deutschland

»Die wollten mich loswerden«


SPIEGEL-GesprächDer ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, 60,


spricht über Demütigungen durch seine Partei, Gefahren für die Wirtschaft – und
rät Kevin Kühnert, erst mal arbeiten zu gehen.

»Die nächsten zehn


Jahre werden ent -


scheidend für Deutsch-


land und Europa.«

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