Muss die Geschichte der Documenta neu
geschrieben werden? Seit bekannt wurde,
dass Werner Haftmann, der wichtigste Be-
rater der Gründerfigur Arnold Bode, von
1937 bis 1945 der NSDAP angehört hat,
tobt die Debatte um die Bewertung und die
Konsequenzen für die im Jahr 1955 erst-
mals in Kassel ausgerichtete Weltkunst-
schau. Haftmann war kein Einzelfall. Nur
profitierten er – und andere – von der Kon-
tinuität der Kasseler Schweigenetzwerke.
Dass die auch 75 Jahre nach Kriegsende
nicht ausreichend bekannt sind, belegen
die Forschungen der Kasseler Kulturwis-
senschaftlerin Mirl Redmann.
Aus dem Kreis der Mitarbeiter der ers-
ten Documenta-Ausstellungen identifizier-
te Redmann insgesamt 55 Namen, bei de-
nen sie eine NS-Nähe aufgrund ihres Ge-
burtsjahres für möglich hielt. Bei 22 von ih-
nen konnte sie eine Mitgliedschaft entwe-
der in der NSDAP oder eine herausgehobe-
ne Position in einer ihrer Unterorganisatio-
nen nachweisen. Im Zentrum standen Män-
ner wie Haftmann – oder Alfred Hentzen,
der 1941 in die NSDAP eingetreten war. Er
wurde Mitglied im Arbeitsausschuss der
ersten Documenta, leitete ab 1946 die Kest-
nergesellschaft in Hannover und wurde
1955 Direktor der Hamburger Kunsthalle.
Die Documenta-Mitarbeiter konnten
sich auf ihr Umfeld verlassen: den Garten-
bauprofessor Hermann Mattern, den Di-
rektor der Kasseler Werkakademie, Ste-
phan Hirzel, oder den Intendanten des
Staatstheaters, Hermann Schaffner, etwa.
Mattern, 1902 in Nordhessen geborener
Landschaftsarchitekt, hatte 1939 die
Reichsgartenschau in Stuttgart gestaltet.
1955 durfte er die Bundesgartenschau in-
szenieren, als deren Beiprogramm die ers-
te Documenta ausgerichtet wurde. Eigent-
lich ein Bauhaus-Anhänger, machte er als
Mitglied in der NS-Bautruppe „Organisati-
on Todt“ Karriere. Nach dem Krieg profi-
lierte er sich als ökologisch inspirierter Ar-
chitekt. Redmann kann jetzt belegen, dass
er Mitglied der NSDAP war. Wegen seines
Ausschlusses aus der NSDAP im Jahr 1938
galt Schaffner, von 1953 bis 1961 Intendant
des Hessischen Staatstheaters, als Verfolg-
ter. Aus den Unterlagen des Bundesarchivs
konnte Redmann jedoch rekonstruieren,
dass Schaffner vehement versucht hatte,
diesen Ausschluss zu verhindern.
Von diesem Netzwerk profitierte auch
die spätere Galionsfigur der Documenta,
Arnold Bode. 1933 vom NS-Regime als stell-
vertretender Leiter des Städtischen Werk-
lehrer-Seminars in Berlin wegen politi-
scher Unzuverlässigkeit und zu moderner
Lehrmethoden entlassen, kehrte der
Kunsthistoriker mit seiner Frau und just
geborener Tochter Nele in die Heimatstadt
Kassel zurück. Arbeitslos geworden, arbei-
tet er zunächst im Architekturbüro seiner
Brüder Paul und Theo. Paul Bode war, im
Gegensatz zu Arnold Bode, der 1929 in die
SPD eingetreten war, NSDAP-Mitglied. Bis
heute gilt er als unbescholtener Vorzeigear-
chitekt der Nachkriegsmoderne. Und auf
der Documenta 13 inszenierte Kuratorin
Carolyn Christov-Bakargiev seine Kasse-
ler Bauten prominent, während die Archi-
tekturhistorikerin Sylvia Stöbe ein Buch zu
seinem Werk publiziert, in dem seine
NSDAP-Mitgliedschaft nicht erwähnt
wird.
Während seines Kriegseinsatzes von
1939 an malte Pauls Bruder Arnold Solda-
tenunterkünfte aus und entwarf, wie der
Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister her-
ausfand (SZ vom 2. 2.), Glasfenster für Luft-
waffenkasinos. Könnte es sein, dass Paul
Bodes NS-Bekanntschaften seinem Bru-
der Arnold den Weg in eine Position jen-
seits der Frontlinien sicherten? Immerhin
gehörte auch ein Mann wie Lauritz Laurit-
zen zu dem NS-nahen Kontext. Der Kasse-
ler SPD-Oberbürgermeister von 1954 bis
1963 war Mitglied der SA und vieler NS-
Fachverbände. Während seiner Amtszeit
war Lauritzen Mitglied im „Club 53“ um Ar-
nold Bode und übertrug Paul Bode 1955 als
„Geheimauftrag“ den Neubau des Hessi-
schen Staatstheaters, den eigentlich der Ar-
chitekt Hans Scharoun errichten sollte.
Letztlich waren im Rahmen der ersten
Documenta nur der SPD-Politiker Adolf
Arndt und der aus einer jüdischen Kauf-
mannsfamilie stammende Erich Lewinski,
ein Sozialist und Widerstandskämpfer,
von 1949 bis 1955 Präsident des Landge-
richts Kassel, eindeutig oppositionell zum
Nationalsozialismus. Aber je genauer man
die frühe Documenta-Szene nach NS-Spu-
ren untersucht, desto komplexer wird das
Geflecht. Dass die dabei zutage geförder-
ten Erkenntnisse mehr als nur der Kennt-
nisnahme bedürfen, hat inzwischen auch
die Documenta zu erkennen gegeben. „Wir
begrüßen und unterstützen eine unabhän-
gige, wissenschaftliche und kritische Aus-
einandersetzung mit der eigenen Geschich-
te. Dies gehört zum Selbstverständnis der
Documenta“, versichert die Geschäftsfüh-
rerin Sabine Schormann der SZ. Die offen-
sive Aufarbeitung von NS-Kontinuitäten
im Kultursektor wäre in Zeiten von grassie-
rendem Neonazismus mehr als eine Pflicht-
übung, sie wäre ein politisches Zeichen.
Zwar gibt Schormann inzwischen öffent-
lich zu Protokoll, dass „der Mythos des Neu-
anfangs nicht aufrechterhalten werden
kann“. Eine öffentliche Debatte zu der Fra-
ge will sie von sich aus vorerst aber nicht
anstoßen. Die notwendige Erforschung
der Zusammenhänge möchte die Kultur-
managerin und Literaturwissenschaftle-
rin an das neue Documenta-Institut dele-
gieren. Das klingt naheliegend. Fragt sich
nur, ob die drei Professorinnen sich ihre
künftige Forschungsagenda vorgeben las-
sen werden. Und auch der Hinweis der Do-
cumenta auf das 2005 zum 50-Jahre-Jubi-
läum der Schau herausgegebene Documen-
ta-Handbuch „archive in motion“ dürfte
als Beleg für den Aufarbeitungswillen
nicht ausreichen. Die NS-Vergangenheit
kommt darin nur am Rande vor. Stattdes-
sen preist es Haftmanns „Hellsicht“ in Sa-
chen „europäisches Bewusstsein“.
Wie die Kasseler Szene der Aufarbei-
tung, die anderswo begonnen hat, hinter-
herhinkt, zeigt auch Kai-Uwe Hemkens
Idee einer Documenta-Konferenz. Damit
wollte der Kunsthistoriker, der an der
Kunsthochschule Kassel lehrt, auf die De-
batte reagieren, die sich nach einer Konfe-
renz des Deutschen Historischen Muse-
ums (DHM) zur „Politischen Geschichte
der documenta“ im Oktober 2019 in Berlin
entzündete. Mit ihr bereitete das DHM ei-
ne Ausstellung zu demselben Thema im
Frühjahr 2021 in Berlin vor. Bei dieser Kon-
ferenz war die NSDAP-Mitgliedschaft Haft-
manns erstmals öffentlich bekannt ge-
macht worden und Streit über die ideologi-
sche Prämisse der Schau ausgebrochen:
das ewige Narrativ von der Wiedergutma-
chung an der „Entarteten Kunst“.
Das ursprünglich für April geplante
Symposion in Kassel wird Hemken jetzt
auf den November verschieben. Denn im
Mai will die Documenta einen Informati-
onsabend zur DHM-Ausstellung veranstal-
ten, wie Sabine Schormann mitteilt, die in
der Öffentlichkeit als „Partner“ der DHM-
Projekte auftritt. Dabei weist DHM-Direk-
tor Raphael Gross darauf hin, dass die Auf-
arbeitung der Documenta nur eines von
drei Themen sei und er als Historiker die
kritische Distanz zum Forschungsgegen-
stand wahre – was eine gemeinsame Trä-
gerschaft ausschließt. Er spricht von einer
„Archivalienpartnerschaft“. Wie auch im-
mer die Kasseler ihre neuen braunen Schat-
ten erforschen wollen: Der „Documenta-
Stadt“ steht ein weiteres Kapitel Erinne-
rungsarbeit bevor. ingo arend
von joseph hanimann
N
ach der misslungenen Urauffüh-
rung durch Claus Peymann am Wie-
ner Burgtheater und der abgesag-
ten Produktion am Münchner Residenz-
theater lag Peter Handkes Stück „Die Un-
schuldigen, ich und die Unbekannte am
Rand der Landstraße“ brach. Hat dieser
Autor seine Regisseure überlebt? In Frank-
reich bietet sich nach Luc Bondy und dem
im Dezember gestorbenen Claude Régy
noch Alain Françon an, ein Meister der
feinen Gestirnbewegung im Empfindungs-
kosmos des modernen Individuums. Vor
fünf Jahren hat er Handkes „Immer noch
Sturm“ auf Französisch herausgebracht.
Am Pariser Théâtre National de la Colline
beschert er den „Unschuldigen“ nun eine
schöne Wiedergeburt. Handke hat sein
Stück laut Programmheft selber ins Fran-
zösische übersetzt.
Für die ausufernd sperrigen Weltdekla-
rationstiraden des späten Handke ist in
Françons konkretem Sprech- und Hand-
lungstheater wenig Platz. Das „Na, so
was!“ – „Ça alors!“ – des erzählenden „Ich“
am Stückbeginn ist bei ihm nicht gesunge-
nes, herausgeschmettertes oder gekrächz-
tes Selbstzitat, sondern aufrichtiges Stau-
nen eines zwar nicht zur Ruhe gekomme-
nen, aber immerhin sesshaft gewordenen
Landstreichers. Ein Staunen darüber, dass
auch im Niemandsland seines Straßen-
stücks der Frühling wiederkehrt. Gilles Pri-
vat spielt diesen Mann leichten Schrittes
als quirligen Einsiedler, der wortselig sei-
ne Wünsche und Flüche um sich tanzen
lässt. Die Landschaft ringsherum (Bühnen-
bild: Jacques Gabel) ist ein flaches Gebiet
mit unscharfen Konturen unter nassgrau-
em Himmel, wie von Gerhard Richter ge-
malt. Die zunächst einzeln, dann gruppen-
weise ins weltlose Hier hereinschneienden
„Unschuldigen“ scheinen mit ihrem kom-
munikativ vernetzten und doch autisti-
schen Händeringen, Herumhüpfen, Sich-
auf-dem-Boden-Wälzen oder In-den-Him-
mel-Starren entfernte Wiedergänger der
Passanten aus Handkes „Stunde da wir
nichts voneinander wussten“ zu sein: Som-
merfrischler, Herbsturlauber, Nomaden,
Migranten mit Rollgepäck.
Diesen vom Ich-Erzähler bald herbei-
gewünschten, bald böse verwünschten
Partnern des Grüßens und Gegrüßtwer-
dens kommt in Handkes Stück eine „Un-
bekannte“ entgegen. Dominique Valadié
spielt sie mit wirrem Haar und zerknitter-
tem Trenchcoat aber nicht als Gegenfigur.
Statt Seherin unter Blinden ist sie eher
Halbblinde unter Halbblinden. Alles, was
bei Handke schroff aufeinandertrifft, wird
bei Françon verflüssigt. Zwischen Freund-
schaft und Feindschaft bleibe uns die Nach-
barschaft als letzte Religion, sagt einer.
Doch selbst das sarkastische Kichern im
Text über diese Restutopie klingt hier nur
halb so schlimm. Und wenn gegen Ende
über der Landstraße der Himmel sich ver-
finstert, nimmt das Asphalt-Schwarz die
ganze namenlose Gesellschaft in sich auf
wie ein dunkel fließender Acheron, der
keine Namen mehr braucht und keine zwei
Ufer mehr trennt.
Eigennamen schwirren im anderen Saal
des Pariser Colline-Theaters durcheinan-
der. Yasmina Reza hat dort ihr Monolog-
stück „Anne-Marie die Schönheit“ insze-
niert. Eine gealterte Schauspielerin, stets
nur Nebendarstellerin, sitzt in ihrer Woh-
nung und erinnert sich im Nachglanz der
gerade verstorbenen berühmten Kollegin
Giselle Fayolle an frühere Zeiten. Im fin-
gierten Interview leben die Jugendträume
in der Provinz, die ersten Auftritte mit Gi-
selle Fayolle in Paris, der Alltag mit dem
einsilbigen Gatten, die Stunden mit dem
heiteren Hausarzt wieder auf. „Wenn man
sie am ehesten braucht, sterben die Leute
weg“, murrt die Dame. Sie sieht auch ihr En-
de näher kommen. Die Vergangenheit wird
dichter, die Gegenwart leerer.
Was beim Lesen dieses Monologs schal
wirken könnte, ohne den typischen Reza-
Biss, gewinnt auf der Bühne eine ganz
neue Dimension. Der Schauspieler André
Marcon verleiht der kratzbürstig rühren-
den Dame mit seinem massiven Körper
eine befremdliche Zartheit. Sein Dasitzen
auf dem Sofa , das Straffziehen des Unter-
rocks, der Griff in die Handtasche oder das
Aufsetzen der Lesebrille reißen Löcher in
eine Alltagsroutine, über die das sanfte Par-
lando der Assoziationen hinwegsprudelt.
Ab und zu huschen Schattenfiguren vom
schwedischen Maler Örjan Wikström über
die Zimmerwand. Und wenn Anne-Marie
am Ende im Aufzählen der Schauspielerna-
men ihrer Jugendzeit schwelgt, löst sie im
schwindenden Licht sich selber in so einen
Schatten auf. Yasmina Reza offenbart in
diesem Stück einen geradezu zärtlichen
Blick auf die Menschen.
Wild geht es hingegen auf der Bühne des
Odéon-Theaters zu. Isabelle Huppert tri-
umphiert dort als Amanda in dem Stück
„Die Glasmenagerie“ von Tennessee Wil-
liams. In einem atemraubenden Sprint ver-
sucht sie, ihre weltscheue Tochter Laura
auf Trab und den unsteten Sohn Tom an
die Leine eines ordentlichen Familien-
lebens zu bringen. Diese Frau hat nichts
mehr von der keifenden Furie oder vom
sorgenden Hausmütterchen. Die ermah-
nenden Worte an Sohn und Tochter hackt
sie klein wie das Suppenhuhn über dem
Kochherd. Lauras potenziellen Freier wi-
ckelt sie straff ins Netz ihrer Rede. Und
wenn am Ende doch alles schiefgeht, wim-
mert sie so lange am Boden, bis der Mut
fürs Weitermachen wiederkehrt.
Der Regisseur Ivo van Hove und sein Büh-
nenbildner Jan Versweyveld haben die
Wohnung der Wingfields in dieser hervor-
ragenden Produktion, die im Herbst auch
am Hamburger Thalia-Theater zu sehen
sein wird, in ein fensterloses Unterge-
schoß verlegt. An den Wänden die Porträts
des verschwundenen Vaters. Der Raum
wirkt wie ein Stück Urwald, in dem die drei
Zurückgebliebenen als Wildtiere hausen.
Laura huldigt ihren Glasfigürchen im Kä-
fig ihrer Schizophrenie und springt, wenn
sie sich mal unter ihrer Wolldecke hervor-
traut, katzenhaft über die Anrichte der Kü-
che. Die narrativen Einlagen in diesem
„Memory Play“ hat der Regisseur auf ein
Minimum reduziert. Statt ihr die schließ-
lich doch noch gelungene Flucht aus der
Ferne zu erzählen, tanzt Tom mit seiner
Schwester Laura am Ende zu Barbaras
Lied vom „Aigle noir“, dem schwarzen
Adler, durch die Wohnstube. Dieses kurze
Glück bleibt mit seiner tiefen Traurigkeit
als großer Theatermoment in Erinnerung.
Die Dramaturgin Patricia Nickel-Döni-
cke wird von der Spielzeit 2021/22 an
neue Schauspieldirektorin am Staats-
theater Kassel. Sie kommt mit dem
designierten Intendanten Florian Lutz,
der den jetzigen Intendanten (und
Schauspieldirektor) Thomas Bockel-
mann ablöst. Nickel-Dönicke, geboren
1979 in Potsdam, war an den Theatern
Osnabrück, Heidelberg und am Staats-
theater Mainz tätig, ehe sie 2017 stellver-
tretende Intendantin und Chefdrama-
turgin in Oberhausen wurde.cd
Der Jean-Améry-Preis für europäische
Essayistik geht in diesem Jahr an den
bulgarischen Politologen Ivan Krastev,
- Der Denker und Publizist untersu-
che in seinem Werk akribisch die Frage,
was Demokratie und Liberalismus jen-
seits des Phrasenhaften bedeuteten,
teilte die Jury unter Vorsitz des Schrift-
stellers Robert Menasse mit. Der Preis
wird vom Verlag Klett-Cotta und der
Allianz Kulturstiftung vergeben und ist
mit 15 000 Euro dotiert. Die Preisverlei-
hung findet am 4. Mai im Berliner Gorki-
Theater statt. kna
Mehr als eine Pflichtübung
Seit NS-Verstrickungen der Documenta-Gründer bekannt wurden, tobt die Debatte. Doch Kassel hinkt der Aufarbeitung hinterher
Die außenpolitische Expertin der „Financi-
al Times“ (FT), Constanze Stelzenmüller,
hat in den Achtzigerjahren in Bonn Rechts-
wissenschaften studiert. Unter ihren Kom-
militonen damals: Friedrich Merz, Armin
Laschet und Norbert Röttgen. In der FT erin-
nert sie sich:
„Meine männlichen Kommilitonen waren
leicht erkennbar. Alle schienen eine Uni-
form zu tragen, die aus gestreiften Hem-
den, Breitcordhosen, Tweedsakkos mit El-
lenbogen-Aufnähern aus Leder und Wing-
tip-Schuhen bestand. Einige von ihnen,
die Söhne von Beamten aus dem höheren
Dienst, Generälen oder Botschaftern, trief-
ten vor Selbstbewusstsein und Anspruchs-
denken. Die anderen kompensierten ihren
niedrigeren sozialen Status mit einem
Übermaß an überbordendem Ehrgeiz.
Die meisten hatten ihren obligatori-
schen Wehrdienst direkt nach dem Abitur
absolviert. Viele haben sich entschieden,
zusätzlich sechs Monate zu dienen, um ei-
nen Offiziersrang zu erlangen; die Snobs
schielten auf eine Geheimdienstausbil-
dung. Ein Initiationsritus waren die Debat-
tierkurse der konservativen Konrad Ade-
nauer Stiftung, in denen die politischen Ta-
lente ihre Vortragskünste schärften. Aber
der wahre Schlüssel zum Erfolg war die
Mitgliedschaft in einer Burschenschaft.
Entweder eine schlagende (ja, wirklich –
Narben und alles) oder die katholische,
nicht-schlagende. Politisch waren beide
konservativ bis reaktionär. Sie führten ihre
heranwachsenden Mitglieder ans gesell-
schaftliche Leben heran mit Bällen (Frau-
en vorgeschrieben) und Trinkabenden
(Frauen streng verboten). Ihre Alumni hal-
fen verlässlich dabei, den jungen Karrie-
ren den Weg in die Berufswelt zu ebnen.
Diese vertikalen Netzwerke nannte man
„Seilschaften“ wie die Teams im Bergstei-
gen. sz
Schwarze Adler über der Landstraße
Dreimal Pariser Theaterglück: Alain Françon belebt Peter Handkes „Die Unschuldigen“, Yasmina Reza
inszeniert ihren Monolog „Anne-Marie die Schönheit“, Isabelle Huppert brilliert in der „Glasmenagerie“
Virenwaren im Pop ein bisher eher
vernachlässigtes Thema. Weil Musiker
im Schlafzimmerstudio- und Streaming-
Zeitalter aber nun wesentlich schneller
auf Zeitgeschehnisse reagieren können,
finden sich auf Spotify mittlerweile seit
ein paar Tagen Dutzende Songs mit
dem Wort „Coronavirus“ im Titel, zum
Beispiel „La Cumbia Del Coronavirus“
des argentinischen Künstlers Marito el
Sarna, der die Epidemie mit Hohner-Ak-
kordeons empfängt. Und das vietname-
sische Gesundheitsministerium veröf-
fentlichte einen Tropical-House-Track
inklusive Hygienevorschriften. Der
zugehörige Tanz entwickelte sich bin-
nen kurzer Zeit zu einer eigenen „Chal-
lenge“ auf der Video-Plattform Tiktok.
Eine weitere Querverbindung zwischen
Pop und Händewaschen: Die angeblich
korrekte Dauer des Einseifens, vor ein
paar Wochen noch über ein sehr fades
„zwei Mal ,Happy Birthday‘ singen“
definiert, lässt sich nun über die Web-
sitewashyourlyrics.comauf den ganz
eigenen Musikgeschmack zuschneiden,
als praktische Anleitung ausdrucken
und im Bad aufhängen: So könnte man
zum Beispiel künftig zu „Killing In The
Name“ der amerikanischen Rap-Metal-
BandRage Against The MachineViren
abtöten – und bei der Song-Zeile „now
you do what they told ya“ an Jens Spahn
denken.
Wer es eher sinnlich mag und darunter
handgeletterte „Carpe Diem“-Wandtat-
toos versteht, sollte sich lieber zuFritz
Kalkbrennersneuem Album „True
Colours“ (BMG) desinfizieren: „Kings
and queens of broken homes / built a
shelter on sticks and stones / crawling
deep down and around / where we
found love after all“, singt Kalkbrenner
darauf mit seiner eigentlich recht inter-
essanten, immer leicht angebrochenen
Soul-Stimme. Leider ist das aber so-
wohl textlich als auch klangästhetisch
wohl genau das, was man heutzutage
unter Business-Techno versteht: Hinter-
grundmusik fürs Cupcake-Café. Die
gesangsfreien Nummern enthalten
zwar hier und da auch etwas Melancho-
lie („White Plains“), besitzen aber auf
mindestens zwei Spuren dann doch
diesen latenten Städtetourismus-Image-
video-Touch, der
vor dem inneren
Auge irre lächelnde
Pärchen und Droh-
nenfahrten über
die Altstadt von
Deggendorf auftau-
chen lässt.
Einen Hauch melancholischere Melan-
cholie liefern hingegenCocorosieseit
mittlerweile auch schon 16 Jahren. Auf
ihrem siebten Studioalbum „Put The
Shine On“ (Rough Trade) klingt das wie
gewohnt, also ziemlich gut. Siarra und
Bianca Casady haben tatsächlich einen
Weg gefunden, auf jedem Album, jedem
Song wiedererkennbar, aber eben doch
immer neu zu klingen. Ein eigenes Gen-
re, dass sich aber nur sehr schwierig
abschließend charakterisieren lässt: Da
rumpeln mal die minimalistisch Allein-
unterhalter-Rhythmusmaschinen
(„Where Did All The Soldiers Go“), dann
gibt’s ein breites Amy-Winehouse-Ge-
dächtnispiano („Restless“) oder auch
mal ein unerwartet böses E-Gitarren-
Riff („Smash My Head“) – gleich blei-
ben eigentlich nur die beiden Gesangs-
stimmen. Wobei man die sehr kindli-
che, man könnte auch sagen: nöhlige
Stimme von Bianca Casady schon sehr
mögen muss, beson-
ders wenn sie in
„Mercy“ versucht,
zu rappen wie Ni-
cky Minaj,was dann
doch nicht unbe-
dingt nötig gewe-
sen wäre.
Trotz all der viralen Pop-Momente:
Auch das Coronavirus bedeutet für den
Pop natürlich nicht nur Gutes. Gesund-
heitsminister Jens Spahn hat zum Re-
daktionsschluss bereits mehrfach zu
bedenken gegeben, dass jeder sich künf-
tig genau überlegen solle, ob er eine
öffentliche Veranstaltung denn nun
unbedingt besuchen müsse, explizit
nannte er auch Besuche inClubs.Wie
soll eine Branche, die besonders auf
Publikum und Live-Einnahmen ange-
wiesen ist, das eigentlich überleben?
Veranstalter und Betreiber von Konzert-
bühnen und Clubs leben vom stetigen
Besucherfluss, und Umsatz machen sie
vor allem jetzt, in den kälteren Monaten
des Jahres. Mit dem South By Sou-
thwest in Austin, Texas wurde zudem
bereits eines der wichtigsten Festivals
abgesagt, das zugleich auch die interna-
tionale Plattform schlechthin ist für
Bands, die auf sich aufmerksam ma-
chen wollen. In Italien haben die Clubs
und Konzerthallen bereits vermehrt
geschlossen. „Dieses Nachtleben“, das
könne man sich derzeit „nicht mehr
erlauben“, sagte dazu der italienische
Ministerpräsident Giuseppe Conte. Und
in Berlin wurde ausgerechnet ein Club
zum Ansteckungs-Hotspot: Ein infizier-
ter Gast im Club „Trompete“, die dem
Schauspieler Ben Becker und dem sa-
genumwobenen Berliner Club-Betrei-
ber Dimitri Hegemann gehört, steckte
16 Gäste an – und ist damit verantwort-
lich für ein ganzes Drittel der Berliner
Fälle. Wer also trotzdem in den kom-
menden Wochen seinen Bauch vom
Bass massieren lassen möchte, kann
unter Umständen bald nur noch auf
eines bauen: ein gutes Soundsystem
daheim. Und tolerante Nachbarn.
quentin lichtblau
„Zwischen Freundschaft und
Feindschaft bleibt uns die
Nachbarschaft als letzte Religion.“
Bahnten Paul Bodes NS-Bekannte
seinem Bruder Arnold den Weg in
eine Position jenseits der Front?
12 HF2 (^) FEUILLETON Mittwoch, 11. März 2020, Nr. 59 DEFGH
Die Documenta – hier ein Foto aus dem Jahr 1982 – war ein Ort der Kunstreflexi-
on. Jetzt muss in Kassel die eigene Vergangenheit aufgearbeitet werden. FOTO: IMAGO
Mutterglucke: Isabelle Huppert als Amanda Wingfield mit Justine Bachelet
als Tochter in der „Glasmenagerie“. Regie: Ivo van Hove. FOTO: JAN VERSWEYVELD
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT
Seilschaften
Schauspielfrau für Kassel
Améry-Preis an Krastev
KURZ GEMELDET
POPKOLUMNE