Süddeutsche Zeitung - 11.03.2020

(Frankie) #1
von thomas krumenacker

D


as Jagdschloss St. Bartholomä im
Nationalpark Berchtesgaden ist ei-
ne bayerische Postkartenidylle. Die
Zwiebeltürme der Kapelle glänzen rot in
der Sonne, und die mächtige Ostwand des
Watzmanns spiegelt sich im glasklaren
Wasser. Nicht weit von hier wurde das
Alpendrama „Die Geierwally“ gedreht und
auch im Inneren des Schlosses sind die
Geier unübersehbar. Ein riesiges Ölgemäl-
de im Festsaal zeigt zwei Bartgeier in Ori-
ginalgröße. Die Inschrift verrät, dass die
Vögel hier im April 1650 erlegt wurden.
„Das Gemälde ist der stärkste Beleg dafür,
dass Bartgeier hier früher heimisch wa-
ren“, sagt Norbert Schäffer.
Der Biologe ist Vizepräsident der Vultu-
re Conservation Foundation (VCF), eines
internationalen Zusammenschlusses von
Geierspezialisten. Die Mission der Wissen-
schaftler und Naturschützer ist es, Bart-
geiern bei der Wiederbesiedlung ihrer eins-
tigen Lebensräume in ganz Europa zu hel-
fen und damit eine „Schlüsselart des hoch-
alpinen Ökosystems“ neu zu etablieren.
Nicht nur in den bayerischen Alpen, son-
dern im ganzen Alpenbogen und in den Py-
renäen ist der früher als „Lämmergeier“,
„Knochenbrecher“ oder sogar als Kinder-
räuber geschmähte Greifvogel mit einer
Flügelspannweite von fast drei Metern er-
barmungslos verfolgt und schließlich aus-
gerottet worden. Der letzte Vogel wurde
1913 im italienischen Aostatal geschossen.
Mittlerweile hat sich das Image von
Geiern gewandelt. Niemand glaubt mehr,
dass die Aasfresser Kinder oder Vieh rau-
ben, und ihre wichtige Funktion im ökolo-
gischen Gefüge als „Hygienepolizei“ wird
von Wissenschaftlern und Landnutzern

gleichermaßen anerkannt. Eine positivere
Einstellung der Menschen hat auch die Ar-
beit des VCF unterstützt. Seit mehr als
30 Jahren wildert die Organisation junge
Bartgeier in den Alpen aus, die in Zoos und
speziellen Großvolieren gezüchtet werden.
Den Anfang machten 1986 vier gezüchtete
junge Geier, die in einer Felsspalte im Rau-
risertal im österreichischen Nationalpark
Hohe Tauern ausgesetzt wurden, als sie im
Alter von drei Monaten gerade flugfähig
waren. Es dauerte dann aber noch fast ein
Vierteljahrhundert, bis dort 2010 der erste
Geier in freier Wildbahn schlüpfte. Bis
dahin hatte das Auswilderungsprogramm
auch an anderen Stellen der Alpen Fahrt
aufgenommen mit Freilassungen an weite-
ren Orten in Österreich, in Frankreich, der
Schweiz und in Italien.

In den französischen Hochsavoyen gab
es bereits 1997 natürlichen Bartgeier-Nach-
wuchs. Die stolzen Geierschützer tauften
den ersten geschlüpften Vogel auf den Na-
men „Phönix“ – der Wiedergeborene.
Seine Eltern waren knapp zehn Jahre zu-
vor als Jungvögel in einer nur wenige Hun-
dert Meter entfernten Felsspalte ausgewil-
dert worden. „Phönix“ mauserte sich zu
einem Vorbildgeier und zieht auch heute
noch – mehr als 20 Jahre nach dem Flügge-
werden – Jahr für Jahr ein Junges ganz in
der Nähe seines Geburtsorts auf.
Seit Beginn der Wiederansiedlung vor
33 Jahren wurden fast 230 in Gefangen-
schaft gezüchtete Bartgeier in den Alpen
ausgewildert. 271 Vögel sind bereits in Frei-

heit geschlüpft. Es gibt also mehr Wildvö-
gel als ausgewilderte. „Wir haben heute
wieder eine zwar kleine, aber sich selbst
tragende Bartgeier-Population“, sagt Fran-
ziska Lörcher. Die Schweizer Biologin koor-
diniert die Monitoring- und Forschungs-
programme des VCF zu der seltensten der
vier europäischen Geierarten. Auch die
Kennzahlen, mit denen die Wissenschaft-
ler den Erfolg messen, sind gut: Die Repro-
duktion beträgt statistisch 0,63 Jungvögel
pro brütendem Paar, und die Überlebens-
rate der einzelnen Tiere liegt bei über
90 Prozent. Alpenweit waren im vergange-
nen Jahr 57 Bartgeier-Reviere besetzt, ein
neuer Rekord. 38 in Freiheit geborene
„Phönixe“ wurden in diesem Jahr flügge –
auch das mehr als je zuvor seit Beginn des
Programms. „Die Population wächst, aber
sie befindet sich auf einem noch sehr nied-
rigen Niveau“, sagt Lörcher. Die sehr unter-
schiedliche Entwicklung in den einzelnen
Regionen der Alpen macht den Geierschüt-
zern Sorgen.
Hochburgen hat die neue Bartgeier-Po-
pulation im Dreiländereck Schweiz-Italien-
Frankreich um den Montblanc sowie um
den Ortler an der italienisch-schweizeri-
schen Grenze. Dort haben Hochgebirgswan-
derer gute Chancen, Bartgeier zu Gesicht
zu bekommen. Auch in den Südalpen, etwa
im französischen Mercantour-National-
park, wächst der Bestand, wenn auch lang-
samer. In den Ostalpen geht es den Bartgei-
ern dagegen nicht so gut. „Auf lange Sicht
ist unser Ziel die Wiederherstellung des ge-
samten ursprünglichen Verbreitungsgebie-
tes von Nordafrika bis in die Türkei“, sagt
Norbert Schäffer, der auch Vorsitzender
des bayerischen Landesbunds für Vogel-
schutz (LBV) ist. „Dazu brauchen wir die
deutschen Ostalpen zwingend als Brücken-

kopf, und dort ist der Bartgeier buchstäb-
lich noch nicht über den Berg.“ Auch Fran-
ziska Lörcher sieht die bayerischen Alpen
in einer Schlüsselfunktion. „Die deutschen
Ostalpen sind zwar ein relativ kleines Ge-
biet, aber eine Population hier wäre sehr
wichtig, damit die Art den Sprung zur Wie-
derbesiedlung in Richtung Balkan, Grie-
chenland und sogar der Türkei schaffen
und so den Bogen schließen kann“, sagt sie.
Eine Machbarkeitsstudie attestiert dem
„Projekt Lückenschluss“ gute Erfolgsaus-
sichten. Die Nahrungssituation in den Ost-
alpen wird darin als ausgesprochen güns-
tig bewertet. So gebe es einen sehr hohen
Schalenwild-Bestand, bei dem ausrei-
chend tote Tiere für die aasfressenden Gei-
er abfallen würden. Auch die sommerliche
Weidetierhaltung in den Almregionen stel-
le im Prinzip reichhaltig Nahrung bereit,
konstatiert die Studie. Allerdings müssten
die Behörden ihre Praxis überdenken, je-
des gestorbene Nutztier sofort aus der
Landschaft abzutransportieren. In ande-
ren Ländern mit großen Geierbeständen
wie Spanien dürfen Bauern seit einigen
Jahren die Kadaver toter Schafe oder Rin-
der für die Geier liegen lassen. Seitdem stei-
gen auch dort die Zahlen der Greifvögel.
Auch andere Schlüsselfaktoren für eine
Wiederbesiedlung der deutschen Alpen
sieht die Studie als erfüllt an. So gebe es
nur geringe Gefahren durch Seilbahnkabel
oder illegaler Verfolgung.
„Der Bartgeier hat hier gelebt, er kann
hier leben und er soll wieder hier leben“,
sagt Schäffer. Die erste Auswilderungsakti-
on soll möglichst schon im Sommer 2021
stattfinden – wahrscheinlich im Wimbach-
tal im Nationalpark Berchtesgaden. Es
liegt nur wenige Kilometer vom Drehort
der „Geierwally“ entfernt.

Der erste in der Natur geschlüpfte
Vogel wurde „Phönix“ genannt.
Er lebt immer noch

Die Bartgeier kommen


Europas größter Greifvogel soll in den bayerischen Alpen wiederangesiedelt werden.


In Österreich und Frankreich vermehren sich die Tiere bereits erfolgreich


Im Jahr 2019 hat sich der Klimawandel er-
neut mit Rekorden bemerkbar gemacht. In
ihrem jährlichen Bericht „State of the Glo-
bal Climate“ zieht die Welt-Meteorologie-
Organisation WMO eine erschreckende Bi-
lanz der Messdaten sowie der Auswirkun-
gen des Klimawandels auf Natur, Gesund-
heit, Ernährungssicherheit und Migration.
Angesichts der fortschreitenden Klimakri-
se ruft die WMO die Weltgemeinschaft
dringend zum Handeln auf.
Nie zuvor seit Beginn der Messungen
war der CO 2 -Gehalt der Luft größer, die
Ozeane wärmer oder der Meeresspiegel hö-
her als im vergangenen Jahr. Das Meereis
in der Arktis hatte im September die dritt-
geringste je erfasste Ausdehnung. Grön-
land büßte mit 329 Gigatonnen überdurch-
schnittlich viel Eis ein. Laut vorläufigen
Messungen seien die als Referenz beobach-
teten Gletscher in aller Welt nun das
32.Jahr in Folge geschrumpft.


Indien, Japan, Europa und besonders
Australien erlebten 2019 Hitzewellen mit
neuen Rekordtemperaturen. In Japan
mussten wegen einer Hitzewelle 18000
Menschen ins Krankenhaus; Frankreich
verzeichnete nach den beiden Hitzewellen
des Sommers 1462 zusätzliche Todesfälle.
Australien hatte 2018/2019 den heißesten
je erfassten Sommer.
Weitverbreitete Trockenheit und Hitze
waren auch die Grundlage der verheeren-
den australischen Waldbrandsaison mit 33
Toten bis Anfang 2020. Erst kürzlich hatte
eine Studie ergeben, dass der Klimawan-


del diese Bedingungen deutlich wahr-
scheinlicher gemacht hat. Auch in Sibirien
und Alaska brannte es stärker als sonst,
teils weit innerhalb des Polarkreises, wo
Brände bislang sehr selten waren.
Noch ist unklar, ob und inwiefern der
Klimawandel sich bereits heute auf Tro-
penstürme auswirkt. Laut dem Weltklima-
rat IPCC dürften sie nicht häufiger, aber
heftiger werden. Auch die Regenmengen,
die ein Zyklon mit sich bringt, dürften zu-
nehmen. Somit könnte das Jahr 2019 ein
Vorgeschmack gewesen sein: ZyklonIdai,
der im März auf Ostafrika traf und große
Gebiete in Malawi, Mosambik und Zimbab-
we zerstörte, war einer der stärksten, die je
in dieser Region beobachtet wurden. Der
atlantische Hurrikan Dorianwiederum,
der im September über die Bahamas fegte,
war heftiger als alle bislang über dem offe-
nen Atlantik dokumentierten Hurrikans.
Die wärmeren Temperaturen führen
auch dazu, dass das Verbreitungsgebiet
der Aedes-Mücken wächst, die unter ande-
rem das Dengue-Virus übertragen. Rund
die Hälfte der Weltbevölkerung sei nun
durch das Dengue-Fieber bedroht, die Fäl-
le stiegen 2019 steil an, berichtet die WMO.
Auch der Anteil unterernährter Menschen,
der lange stetig gesunken war, hat von
2015 bis 2018 wieder leicht zugenommen
auf knapp elf Prozent; einer der Gründe da-
für seien Wetterextreme.
„Dieser Report fasst die neueste For-
schung zusammen und zeigt die Dringlich-
keit weitreichender Klimaschutzmaßnah-
men“, schreibt UN-Generalsekretär Anto-
nio Guterres in einem Vorwort. Die Welt sei
derzeit weit davon entfernt, die Erwär-
mung wie in Paris vereinbart unterhalb
von 1,5 Grad oder auch nur von zwei Grad
Celsius zu halten. marlene weiss

Heilung ist ein großes Wort. Das gilt beson-
ders, wenn es um eine Erkrankung wie
Aids geht. Wer an die Diskussionen in den
achtziger und frühen neunziger Jahren zu-
rückdenkt, wird sich erinnern, dass ein po-
sitiver HIV-Test damals zumeist mit ei-
nem Todesurteil gleichgesetzt wurde. In-
zwischen gelten viele Infizierte als „Lang-
zeitüberlebende“ und Aids hat eher den
Status einer chronischen Erkrankung an-
genommen. Trotzdem ist die vollständige
Genesung von der Immunschwäche nach
wie vor absolut ungewöhnlich.


Von einer Heilung berichten nun Wis-
senschaftler aus Großbritannien im Fach-
magazinLancet. Demnach konnten bei ei-
nem HIV-Patienten, der nur als „The Lon-
don Patient“ bezeichnet wird, auch 30 Mo-
nate nach Ende der antiretroviralen Thera-
pie keine aktiven Viren mehr in seinem
Blut nachgewiesen werden. Dieser Erfolg
kam durch die Transplantation von
Stammzellen eines Spenders zustande,
der über ein seltenes Gen verfügt, dass Re-
sistenz gegenüber HIV verleiht. Nur knapp
ein Prozent der Bevölkerung weisen diesen
Gendefekt auf. Er verhindert das Ver-
schmelzen des Virus mit der Wirtszelle
und schützt so vor einer Infektion. Sollten
womöglich doch noch Reste von HIV-DNA
in Blut oder im Gewebe des Patienten auf-
tauchen, handele es sich dabei um harmlo-
se Bruchstücke, sogenannte „Fossilien“,
und nicht um gefährliche Erreger, die sich
vermehren könnten, schreiben die Wissen-
schaftler.
„Unsere Ergebnisse belegen, dass nun
der zweite Patient weltweit von HIV geheilt
wurde“, sagt der Erstautor der Studie, Ra-
vindra Kumar Gupta von der Universität
Cambridge. „Der Erfolg einer Stammzell-
transplantation vor neun Jahren konnte


demnach wiederholt werden.“ 2011 wurde
der „Berlin-Patient“ auf ähnliche Weise ge-
heilt, wie dreieinhalb Jahre nach dessen
zweimaliger Stammzelltransplantation be-
richtet wurde. Zusätzlich hatte der HIV-In-
fizierte damals eine Ganzkörperbestrah-
lung sowie eine Chemotherapie bekom-
men, um eine Vermehrung des Virus sicher
auszuschließen. Im Gegensatz dazu beto-
nen die britischen Forscher, dass im aktuel-
len Fall weniger Aufwand ebenfalls zum Er-
folg geführt habe.
Allerdings ist die Behandlung mit diver-
sen Risiken verbunden und wenigen Pati-
enten vorbehalten. „Diese Therapie findet
nur dann Anwendung, wenn die Patienten
zusätzlich zu ihrer HIV-Infektion an einem
lebensbedrohlichen Blutkrebs leiden“,
sagt Ravindra Kumar Gupta. Der Patient
aus London war außerdem an Morbus Hod-
gkin erkrankt, einem bösartigen Lymph-
krebs; der Berliner Patient hatte an Leuk-
ämie gelitten. „Das ist keine Behandlung,
die wir Patienten mit HIV anbieten, wenn
sie bereits eine erfolgreiche antiretrovirale
Therapie bekommen.“
Schon länger wird darüber spekuliert,
ob die seltene genetische Resistenz gegen
HIV ein vielversprechender Ansatz für die
Therapie gegen Aids sein könnte, beispiels-
weise durch zielgerichtete Veränderung
der DNA („Gene Editing“). „Noch gibt es
aber viele technische und ethische Hinder-
nisse zu überwinden, bis es so weit ist“,
sagt Dimitra Peppa von der Universität Ox-
ford, die ebenfalls an der Untersuchung be-
teiligt war. Die HIV-Forscherin Sharon Le-
win von der Universität Melbourne ist
zwar beeindruckt von den zahlreichen Ge-
webeproben und Untersuchungen in der
aktuellen Studie, die belegen sollen, dass
im Körper des Patienten keine Viren mehr
aktiv sind, wie sie in einem Kommentar
schreibt. „Den Patienten mag es beruhi-
gen, dass kein intaktes Virus mehr gefun-
den wurde. Allerdings wird erst die Zeit zei-
gen, ob der Patient auch tatsächlich geheilt
ist.“ werner bartens

Wetterextreme seien ein Grund


dafür, dass der Anteil hungernder


Menschen wieder ansteigt


Hitze, Stürme, Waldbrände


UN-Meteorologen ziehen Klimabilanz für 2019


Von Aids geheilt


Weltweit zweiter Erfolg dank aufwendiger Therapie


Die Behandlung ist Patienten


vorbehalten, die zusätzlich


an Blutkrebs leiden


Mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern ist der Bartgeier einer der größten flugfähigen Vögel weltweit. FOTO: IMAGO IMAGES / BLICKWINKEL

(^16) WISSEN Mittwoch, 11. März 2020, Nr. 59 DEFGH
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