Süddeutsche Zeitung - 11.03.2020

(Frankie) #1

Augsburg–Es war nicht die schönste Ge-
schichte aus der gemeinsamen Vergangen-
heit, die Heiko Herrlich zur Begrüßung er-
zählte. Der neue Trainer des FC Augsburg
saß am Dienstag bei seiner offiziellen Vor-
stellung neben Stefan Reuter, dem Augs-
burger Sportgeschäftsführer, seinem neu-
en Chef. Herrlich, 48, und Reuter, 53, ha-
ben einst gemeinsam für Borussia Dort-
mund gespielt, 1996 die Meisterschaft ge-
wonnen, 1997 die Champions League, 1998
den Weltpokal. Doch Herrlich sprach dar-
über, wie beide einmal gemeinsam fast in
die zweite Bundesliga abgestiegen waren.
Im Sommer 1999, erzählte Herrlich, sei
der BVB teuer verstärkt worden, „für 50
Millionen D-Mark“, um Meister zu wer-
den. In der Hinrunde war das Team kurz-
zeitig Erster. Doch in der Rückrunde ge-
wann die Mannschaft dann 14 Spiele lang
nicht, und Udo Lattek musste als dritter
Trainer der Saison geradeso den Abstieg
vermeiden. „Wir haben die Situation auch
lange unterschätzt“, sagte Herrlich. Ganz
ähnlich wie jetzt in Augsburg, meinte er.


Es war durchaus eine Überraschung, als
der Bundesliga-Vierzehnte am Montag, ei-
nen Tag nach einem 0:2 beim FC Bayern,
Trainer Martin Schmidt entlassen hatte,
um am Morgen danach Herrlich als Nach-
folger zu präsentieren, der einen Vertrag
bis 2022 unterschrieb und nun das Saison-
ziel Klassenverbleib sichern soll. Zwar war
die Niederlage in München bereits die sieb-
te in den vergangenen neun Spielen, in der
Rückrundentabelle ist Augsburg Letzter.
Doch die Leistung des Außenseiters beim
deutschen Meister war eigentlich positiv
interpretiert worden. Genau das aller-
dings, sagte Reuter, nach Niederlagen ge-
lobt zu werden, sei das Problem. „Das ist
das Gefährlichste, was es gibt.“
Unter Schmidt hatte die Mannschaft in
der vergangen Saison zwar den Abstieg ver-
mieden und in der Hinrunde eine Siegesse-
rie hingelegt. Doch Reuter nannte Indizien
wie schwache Passquoten und Zweikampf-
statistiken, „die deutlich gegen uns spre-
chen“. In beiden Kategorien ist Augsburg
tatsächlich das schwächste Bundesliga-

team. Es gehe „in die falsche Richtung“,
und das „seit Wochen und Monaten“, sagte
Reuter. Zwar dankte er Schmidt für dessen
Arbeit und ein angeblich verständnisvolles
Gespräche am Montag, doch er deutete
auch an, dass der freundliche Schweizer
für seinen Geschmack deutlich zu positiv
über die vielen Niederlagen sprach. Das
0:2 in München hatte Schmidt einen
„Schritt in die richtige Richtung“ genannt.
Herrlich möchte das nun ändern. „Die
Mannschaft befindet sich in einer schwieri-
gen Lage. Ich glaube, das ist dem einen
oder anderen noch gar nicht bewusst“, sag-
te der neue Trainer. Fünf Punkte beträgt
Augsburgs Vorsprung auf den Relegations-
platz. Die Spieler, glaubt er, könnten das
womöglich nicht ernst genug nehmen. Das
sage ihm sein Instinkt.
Herrlich war seit seiner Entlassung bei
Bayer Leverkusen kurz vor Weihnachten
2018 mehr als ein Jahr lang ohne Trainer-
job. Es habe Anfragen gegeben, „ein paar
exotische Geschichten“ aus China und Du-
bai, auch Kontakt mit anderen Bundesligis-

ten. Er habe sich viele Spiele und Trainings-
einheiten angeschaut, unter anderem im
Trainingslager des FCA und von Borussia
Mönchengladbach, aber auch bei Real und
Atlético Madrid. Als er gefragt wurde, ob
sich die Mannschaft, die unter Schmidt
klar auf wenig Ballbesitz und schnelles Um-
schalten ausgerichtet war, unter ihm fuß-
ballerisch wandeln werde, wollte Herrlich
nicht ins Detail gehen. Er sprach stattdes-
sen von mehr „Leidenschaft und Biss“ als

Ziel und zitierte die Statistik, dass Bayer 04
unter ihm mal die zweitmeisten Großchan-
cen der Bundesliga herausgespielt habe.
Eineinhalb Jahre hatte er in Leverkusen ge-
arbeitet und davor mit Regensburg den
Aufstieg in die zweite Liga geschafft.
Die Anfrage aus Augsburg, sagte Herr-
lich, sei per SMS von Reuter am Sonntag-

abend eingetroffen, „um Viertel vor Elf
oder so“. Weil er da schon schlief, habe er
sich erst am nächsten Morgen zurückge-
meldet. Es war offensichtlich noch früh ge-
nug. Lautkickersoll Herrlichs Verpflich-
tung schon im Herbst beim FCA ein Thema
gewesen sein. Augsburg, sagte er, sei „ein
toller, interessanter Verein. Ich möchte ihn
wieder in die Spur bringen.“
Es ging auch ein wenig ums große Augs-
burger Ganze am Dienstag. Denn der Klub,
der eigentlich für Kontinuität stehen möch-
te, beurlaubte nun bereits zum vierten Mal
hintereinander einen Trainer vor seinem
Vertragsende – und Schmidt bereits nach
der kurzen Zeit von elf Monaten. Auch an
Stefan Reuter, dem Geschäftsführer seit
2013, wurde deshalb zuletzt immer mal
wieder Kritik laut. Er war auf die Frage of-
fensichtlich vorbereitet: Im Vergleich hät-
ten zuletzt nur der SC Freiburg und Borus-
sia Mönchengladbach weniger Trainer be-
schäftigt als Augsburg. Und dann sagte er,
dass es jetzt entscheidend sei, wieder nach
vorne zu schauen. sebastian fischer

interview: jean-marie magro

J


ohan Micoud, 46, war einst einer der
elegantesten Spieler der Bundesliga.
Mit Werder Bremen gewann „Le Chef“
in der Saison 2003/2004 das Double und
qualifizierte sich dreimal in Serie für die
Champions League, ehe er zu Girondins
Bordeaux zurückkehrte und dort seine Kar-
riere beendete. Heute ist Micoud einer der
angesehensten Experten Frankreichs.
Beim Fernsehsender der Sportzeitung
L’Équipeist er Stammgast in der täglichen
Sendung „L’Équipe du soir“. Micouds Ana-
lysen ähneln seinem Spielstil von einst:
scharf und präzise. Im Interview widmet
er sich Frankreichs Tabellenführer Paris
Saint-Germain, der an diesem Mittwoch
im Achtelfinale der Champions League ver-
sucht, ohne Publikumsunterstützung den
1:2-Rückstand aus dem Hinspiel gegen Bo-
russia Dortmund aufzuholen.


SZ: Herr Micoud, ob mit Publikum oder
wie jetzt wegen des Coronavirus ohne:
Von der Qualität des Kaders her sollte Pa-
ris Saint-Germain doch ohne Weiteres in
derLage sein,um den Champions-League-
Titel mitzuspielen, oder?
Johan Micoud: Um die Champions League
zu gewinnen, muss PSG erst einmal gegen
Dortmund weiterkommen, und das wird
schwer genug. Zumal ich davon ausgehe,
dass der BVB mindestens ein Tor schießt.
Hat es die Mannschaft im Kreuz, nach ei-
nem Rückstand zurückzukommen?


Paris ist eine Mannschaft, die eine Vergan-
genheit hat. Und wenn es um die Champi-
ons League geht, wiegt diese verdammt
schwer. Man gewinnt den Eindruck, dass
die Spieler immer, wenn das Achtelfinale
kommt, total verkrampfen. Der Schlüssel
liegt exakt an dieser Stelle. Sollte das Team
lockerer werden und seine Qualitäten voll
ausspielen können, hat es sehr wohl eine
Chance. Dafür muss aber die Einstellung
stimmen. Und da setze ich ein großes Fra-
gezeichen, wenn man sich ansieht, was in
den vergangenen Jahren alles passiert ist.
Zum Beispiel das kuriose Ausscheiden im
vorigen Jahr wegen des Torverhältnisses
gegen Manchester United: 2:0 auf der In-
sel gewonnen, aber 1:3 in Paris verloren.
Oder das groteske Duell mit dem FCBarce-
lona 2017: 4:0 in Paris gewonnen, aber 1:6
im Rückspiel untergegangen. Muss man
von einem Trauma sprechen?
Das kann man so sagen. Paris hat Enttäu-
schungen durchmachen müssen, und die
schleppt die Elf mit sich wie ein Sträfling
seine Eisenkugel. Das war auch im Hin-
spiel in Dortmund zu sehen. Ich habe das
PSG, das ich kenne, nicht mehr wiederer-
kannt. Dortmund hat Paris an der Kehle ge-
packt und durchs Stadion gezogen; sie wa-
ren sowohl individuell, aber vor allem kol-
lektiv überlegen. Und dann haben sie in Er-
ling Haaland einen Angreifer in ihren Rei-
hen, den gerade ganz Europa entdeckt.
Paris ist mit dem 1:2 glücklich davonge-
kommen. Aus meiner Sicht war Dortmund
viel stärker, als es das Ergebnis ausdrückt.
Kann die PSG-Abwehr Haaland stoppen?
Es ist ja nicht nur Haaland, sondern auch
Jadon Sancho, und nun ist auch noch Juli-
an Brandt zurückgekehrt, von dem ich
sehr viel halte. Bei Dortmund machen in
der Offensive alle mit. Das zentrale Mittel-
feld mit Axel Witsel und Emre Can finde
ich auch sehr beeindruckend.
Kurzer Vergleich mit der Vergangenheit:
Sie waren in der Bundesliga ein glänzen-
der Vorbereiter. Erinnert Sie Haaland zu-
mindest in seiner Unberechenbarkeit
nicht doch ein wenig an Ailton, dem Sie im
Jahr 2004 die Bälle zum Bremer Meister-
schaftsgewinn servierten?


Interessanter Vergleich, aber es sind zwei
sehr verschiedene Spieler. Ailton hat sehr
viel Raum beansprucht und sich in hohem
Tempo in diese Räume gestürzt. Ich habe
ihn mit meinen Pässen immer wieder in
die Tiefe geschickt. Haaland geht zwar
auch dorthin, aber er ist ebenso ein Spieler,
der den Ball gegen mehrere Gegner be-
haupten oder ihn abtropfen lassen kann.
Mit ihm hätte ich sicher auch gut kombinie-
ren können. Ich sage es mal diplomatisch:
Zusammen hätten die beiden bestimmt
ein tolles Offensivduo abgegeben.

Konkret zum Spiel: Jetzt hat sich auch
noch der Kapitän und Abwehrchef ver-
letzt, der Brasilianer Thiago Silva. Aber
von ihm, das war bereits zu hören, halten
Sie gar nicht so viel.
Weil er symbolisch für diese Mannschaft
und ihren Mangel an Charakter steht. In
den wichtigen Spielen ist er nicht präsent
genug. Häufig lässt er sich nach hinten in
seine Komfortzone zurückfallen, anstatt
die Abwehrreihe anzuführen und die Kette
energisch nach vorne zu schieben. Das sah
man bei beiden Dortmunder Toren, vor al-
lem beim zweiten: Haaland konnte ohne
Probleme Tempo aufnehmen, weil Silva
zehn Meter hinter seinen Teamkameraden
wartete. Wer so verteidigt, der reißt auto-
matisch Löcher, die die Mittelfeldspieler
schließen müssen. Marco Verratti ...
... zentraler Mittelfeldspieler von Paris ...
...ist wie ein Irrer gelaufen. Wenn ich an
seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich mich
irgendwann umgedreht und ein ernstes
Wörtchen mit Thiago Silva gesprochen.
Aber in dieser Mannschaft redet scheinbar
niemand mit irgendwem. Und gegen eine
so talentierte Mannschaft wie Dortmund
wird das sofort bestraft.
Kann man jetzt also von einer besseren
Chance sprechen, da der von Ihnen kriti-
sierte Silva im Rückspiel verletzt fehlt?

Paris muss, ob mit oder ohne Silva, ein
höheres Pressing spielen und kompakter
stehen. Nur so haben sie eine Chance.
Wie erklären Sie sich, dass eine Mann-
schaft, in die Hunderte Millionen Euro für
Weltstars wie den Brasilianer Neymar,
den Franzosen Kylian Mbappé oder den
Argentinier Angel Di Maria gesteckt wur-
den, nicht in der Lage ist, gegen Dort-
mund das Spiel zu dominieren?
Man muss einräumen, dass einige Spieler
nicht in Topform waren. Marquinhos und
Thiago Silva waren erst kurz zuvor in den
Kader zurückgekehrt. Neymar hatte nach
einer Verletzungspause zwei Wochen lang
nicht gespielt. Der Mannschaft fehlte der
Rhythmus. Wird es nun nach drei weiteren
Wochen besser sein? Ich weiß es nicht. Im
Hinspiel hat Thomas Tuchel auch sehr
überraschend aufgestellt. Von den „Fantas-
tischen Vier“ ...
... Neymar, Mbappé, Di Maria und der ar-
gentinische Stürmer Icardi ...
...waren nur drei auf dem Platz. Tuchel hat
außerdem in einem 3-4-3-System spielen
lassen, ein System, mit dem PSG sehr
selten angetreten war. Und wenn, ging es
nicht unbedingt gut aus.
Er hatte in der Pressekonferenz nach dem
Spiel argumentiert, er habe so in der Hin-
runde gegen Dijon aufgestellt.
Ein merkwürdiges Argument. Sagen wir
mal so: Wir waren in Frankreich alle sehr
überrascht.

In den letzten beiden Jahren fehlte Ney-
marzu diesem Saisonzeitpunkt durch Ver-
letzungen. Einmal feierte er während sei-
ner Reha sogar Karneval in Rio. Kommt er
denn jetzt langsam wieder in Form?
Na ja, das wissen wir alle nicht. Im ersten
Ligaspiel nach dem Auftritt gegen Dort-
mund wurde er kurz vor Schluss mit Rot
vom Platz gestellt. Das deutet eher darauf
hin, dass er nervös und frustriert ist.
Kylian Mbappé scheint gesundheitlich hin-
gegen auf der Höhe zu sein – und trotz-
dem ein bisschen neben sich zu stehen. Er
schießt Tore, aber er löst auch viel Unruhe
aus. Einmalverweigerte er Tuchel nach ei-
ner Auswechslung den Handschlag, und
jüngst in der Liga beschwerte er sich nach

Abpfiff lautstark bei Abwehrspieler Mar-
quinhos über dessen Art zu verteidigen.
Wird Mbappé immer hochnäsiger?
Er ist 21, ein sehr junger Spieler, aber wir
haben ihn in Frankreich schon jahrelang
beweihräuchert. Seit etwa einem halben
Jahr wirkt es jedoch so, als habe er die Auf-
fassung, er stehe über den anderen. Das ist
weder gut für Paris noch für Frankreich
noch für irgendeine Mannschaft.
Kann man als Trainer einer Elf mit so vie-
len großartigen Einzelspielern überhaupt
die Kontrolle über die Kabine behalten?
Er muss es, das ist die Aufgabe eines Trai-
ners. Natürlich ist es schwer bei so vielen
großen Egos, aber damit muss Tuchel zu-
rechtkommen. Gerade habe ich nicht den
Eindruck, dass er die Lösung dafür gefun-
den hat. Jedes Mal, wenn Gefahr droht,
wird es kompliziert. Und selbst wenn keine
Gefahr droht, schafft die Mannschaft diese
von ganz allein.
Das klingt, als habe die Mannschaft kei-
nen Charakter.
Paris Saint-Germain hat keine Seele, und
das unterscheidet das Team von den ande-
ren Spitzenteams in Europa.

Woran machen Sie das fest?
Paris fehlt es an Kultur, an Mentalität und
an Intensität. Das Hinspiel gegen Dort-
mund war nur ein Beispiel dafür. Die wirk-
lich guten Teams, die sich fürs Achtelfinale
qualifiziert haben, besitzen richtigen
Charakter und spielen zusammen. Selbst
wenn es schwierig wird, schaffen sie es ir-
gendwie, den Kopf aus der Schlinge zu zie-
hen und über sich hinauszuwachsen, weil
es echte Mannschaften sind. PSG hinge-
gen ist ein Aggregat aus zugegeben formi-
dablen Einzelspielern.
Fehlt der Mannschaft ein Leader?
Ich denke, ja. Es braucht einen echten Kapi-
tän oder zumindest jemanden, der in der
Kabine den Ton angibt. Thiago Silva trägt
zwar die Binde, aber er ist niemand, der
den Ton angeben würde, sondern er lässt
sich in kritischen Momenten immer weiter
zurückfallen. Blöderweise finden sie an-
scheinend niemanden, der diesen Anforde-
rungen genügt. Es sind schon zwei Jahre
vergangen, seit sie mit der Suche nach ei-
nem echten Sechser, einem Nachfolger für
Thiago Motta im defensiven Mittelfeld, be-
gonnen haben. Bis heute ist keiner in Sicht.

Muss Paris weiter einkaufen, um die
Champions League zu gewinnen?
Wenn der Verein von sich aus keinen Cha-
rakter und keine Seele entwickeln kann,
müssen Spieler dazugeholt werden, die ei-
ne solche Siegesaura ausstrahlen. Das wird
nicht leicht, weil durch die vielen Konflikte
in diesem Klub jede Entscheidung kompli-
ziert ist. Der Trainerstab kann nicht mit
der medizinischen Abteilung, Neymar
droht immer wieder mit dem Wechsel, und
dann gibt es die Fehde zwischen Tuchel
und dem sportlichen Direktor Leonardo.
Der Brasilianer soll so etwas wie ein Auf-
passer für Trainer Tuchel sein.
Leonardo ist der Vertrauensmann der kata-
rischen Investoren. Sein Verhältnis zu Tu-
chel ist, wie kann ich das ausdrücken: ein
sehr kaltes.
Erzählt wird, Leonardo wolle die Mann-
schaft eigentlich selbst trainieren.
Zwischen den beiden herrscht eher Kon-
kurrenzdenken als gute Zusammenarbeit.
Das hat man auch nach dem Hinspiel se-

hen können. Leonardo stieg demonstrativ
als Erster in den Bus und telefonierte, an-
statt sich vor den Trainer zu stellen.
Kann sich Tuchel dann überhaupt noch
über das Saisonende hinaus retten?
Es gab manche, die seinen Kopf schon jetzt
forderten und nicht einmal das Rückspiel
abwarten wollten. Ich glaube, dass er sich
zumindest bis zum Saisonende schleppen
wird. Vieles wird aber vom Rückspiel ge-
gen Dortmund abhängen. Sollte Paris aus-
scheiden, ist Tuchels Zeit wohl abgelaufen.
Der einstige PSG-Trainer Luis Fernández
hat öffentlich erklärt, Tuchel sei der
schlechteste Trainer seit Anfang der Ka-
tar-Ära. Wie wird der deutsche Trainer in
Frankreich und von Ihnen eingeschätzt?
Wie ich zuvor sagte, hat fast niemand seine
Taktik gegen den BVB verstanden. Man-
che Spieler scheinen ihm außerdem auf
der Nase rumzutanzen. Das ist das Pro-
blem mit charaktervollen Spielern, denen
es an wirklichem Charakter fehlt. Man ge-
winnt den Eindruck, Tuchel sei zu weich,
zu nachsichtig mit diesen.
Sie reden so, als habe er seine Mannschaft
auch nach fast zwei Jahren im Amt immer
noch nicht gefunden?
PSG begleiten zu viele Unsicherheiten –
und Tuchel selbst schafft zusätzliche. Neh-
men wir den Fall Edinson Cavani...
... mit200 Toren ist der Uruguayer der bes-
te Torjäger in der Historie des Klubs ...

... und der hat monatelang kaum eine Minu-
te gespielt, weil Tuchel lieber Mauro Icardi
den Vorzug gab. Plötzlich fanden wir in den
Wochen vor dem Dortmund-Spiel immer
häufiger Cavani in der Startelf. Und was
macht Tuchel gegen Dortmund? Er stellte
keinen der beiden auf. Inzwischen spielt
Cavani immer mehr, obwohl ich bei Icardi
keine echte Schwächephase erkennen
kann. Ich bin bei Tuchel immer wieder
überrascht.
Hinzu kommt, dass sich der katarische
Klubchef Nasser al-Khelaifi selten blicken
lässt, um sich ordnend einzumischen.
Das würde ich sicherlich zu den Problemen
dazuzählen. Und es gibt einige.

Fordert die Ligue 1, die erste französische
Liga, die Mannschaft aus Paris zu wenig?
Das glaube ich nicht. Die Herausforderung
ist doch, die Intensität selbst gegen Mann-
schaften, die schwächer sind, hochzuhal-
ten. Nehmen Sie den FC Bayern. Als der En-
de Februar 3:0 gegen Hoffenheim führte,
spielte er so, als stehe es noch unentschie-
den, und gewann 6:0. Paris wiederum ver-
tändelt immer wieder Vorsprünge gegen
weitaus schlechtere Mannschaften, weil
sie sich Unkonzentriertheiten leisten. Nur:
Wenn dir so etwas in der Liga passiert, bist
du dafür auch automatisch in der Champi-
ons League anfälliger.
Wenn Sie schon den FC Bayern anspre-
chen: Polarisiert Paris Saint-Germain in
Frankreich ähnlich stark wie die Münch-
ner in Deutschland?
Die Situation ist vergleichbar. Natürlich
gibt es auch in einigen Ecken des Landes
Fans von PSG, weil es eben doch zuletzt der
Leuchtturm des französischen Fußballs
war. Dennoch wird Paris Saint-Germain,
ich sage es mal freundlich, nicht unbedingt
wertgeschätzt. Von Hass würde ich da aber
nicht sprechen.

Verfolgen Sie eigentlich noch die Spiele
von Werder Bremen?
Nicht jedes Spiel, aber natürlich weiß ich,
dass es gerade nicht so gut um meine Bre-
mer steht. Wir können nur hoffen, dass es
jetzt wieder bergauf geht, sonst wird es
langsam gefährlich.
Wurden Sie schon gefragt, ob Sie Feuer-
wehrmann als Trainer spielen wollen?
Nein, bisher gab es keine Kontakte. Aber
ich habe wirklich fantastische Erinnerun-
gen an diese Zeit. Das Publikum ist ein
großartiges, die Atmosphäre dort habe ich
immer geliebt und aufgesogen. Unser
Spielstil war offensiv und aufregend, wir
haben das auf dem Feld immer genossen.
Nicht jeder bekommt einen Fansong und
erst recht nicht mit so einer schönen Melo-
die – „Hey Jude“ von den „Beatles“.
„Hey Micoud“ war schon ein Ohrwurm
und hat mich sehr berührt. Egal wo, aber
immer wenn ich „Hey Jude“ höre, denke
ich an die Werder-Fans und das Weser-
stadion. Das ist doch was.

„Paris hat keine Seele, und
dasunterscheidet das Team
von anderen Spitzenteams.“

Loben verboten


Nach der Entlassung von Martin Schmidt verpflichtet der FC Augsburg Heiko Herrlich als neuen Trainer. Er soll der Mannschaft deutlich machen, wie sehr sie vom Abstieg bedroht ist


Nummer sechs
DieBundesliga-Trainer des FC Augsburg

„Wie ein Sträfling mit der Eisenkugel“


Der einstige Bremer Meisterspieler Johan Micoud ist einer der angesehensten TV-Experten Frankreichs.
Ein Gespräch über das Champions-League-Achtelfinale, in dem die schwer erziehbare
Pariser Prominentenelf des deuschen Trainers Thomas Tuchel ein 1:2 gegen Dortmund aufholen muss

Stolz mit Trophäe: Johan Micoud, 46, de-
bütierte 1992 als Profi beim AS Cannes,
spielte von 2002 bis 2006 bei Werder Bre-
men und holte 2004 das Double in die
Hansestadt. FOTO: INGO WAGNER / DPA

„Wenn ich ‚Hey Jude‘ höre,
denke ich an die Werder-Fans
und das Weserstadion.“

DEFGH Nr. 59, Mittwoch, 11. März 2020 HF2 27


Champions League
Achtelfinale– Rückspiele

Jos Luhukay 4/2009 – 6/2012
Markus Weinzierl 7/2012 – 6/2016
Dirk Schuster 7/2016 – 12/2016
Manuel Baum 12/2016 – 4/2019
Martin Schmidt 4/2019 – 3/2020
Heiko Herrlich ab 3/2020

Als Herrlich die SMS von
Geschäftsführer Reuter erhielt,
war er bereits eingeschlafen

SPORT


DIENSTAG(21Uhr) /Hinspiel
RB Leipzig – Tottenham Hotspur / 1:0
FC Valencia – Atalanta Bergamo / 1:4
MITTWOCH(21 Uhr)
Paris St.-Germain – Borussia Dortmund / 1:2
FC Liverpool – Atlético Madrid / 0:1

DIENSTAG, 17. März(21 Uhr)
Manchester City – Real Madrid / 2:1
Juventus Turin – Olympique Lyon / 0:1
MITTWOCH, 18. März(21 Uhr)
FC Bayern München – FC Chelsea / 3:0
FC Barcelona – SSC Neapel / 1:1

TV:alle Spiele live bei Sky oder DAZN

Heiko Herrlich. FOTO: STEFAN PUCHNER / DPA

Im Hinspiel nicht zu stoppen: Dortmunds Stürmer Erling Haaland erzielte zwei Tore gegen Paris St. Germain – hier das zum 2:1. FOTO:LARS BARON / GETTY
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