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Während des Studiums absolvierte ich eine Modifikationstherapie nach
Charles Van Riper und intensivierte meine Kontakte zur Selbsthilfe. Beides
stieß in mir die Tendenz an, mein Stottern nicht mehr zu verstecken, sondern
offen zur Schau zu stellen. Es wurde von mir nicht mehr übertüncht, sondern
ich stand zu meinen sprachlichen Normabweichungen und auch meine Mit-
menschen sollten sie ruhig mitbekommen können. Wie sollte ich da nicht
auch andere Menschen so akzeptieren, wie sie nun einmal waren? Mit ihren
charakteristischen äußerlichen Merkmalen, ihren individuellen Verhaltens-
weisen, mit ihren persönlichen Vorlieben oder auch ihren auf den ersten Blick
vielleicht fremd anmutenden kulturellen Prägungen oder skurrilen Besonder-
heiten.
In einer Zeit, in der jedermann das Wort „Inklusion“ im Munde führt, frage
ich mich ernsthaft, warum die sozialen Normen eigentlich so starr gelten und
über die Massenmedien immer weiter verstärkt werden. Die wenigsten wissen
nämlich wahrscheinlich, dass es bei Inklusion um mehr geht als um gemein-
same Schulen für behinderte und nicht-behinderte Kinder und Jugendliche.
Es geht dabei in Wahrheit und in Gänze um nichts weniger als um die nicht-
hierarchisierende Wertschätzung menschlicher Vielfalt sowie um den Ver-
zicht auf Schablonen. Auf unsere Ideale übersetzt heißt das: glatte Haut ist
nicht besser als deren faltiges Pendant, sämtliche Ohrmuschelformen sind
gleichberechtigt, Stottern ist genauso gut wie flüssig zu sprechen und so wei-
ter und so fort. Inklusion hieße, Nachrichtensprecherinnen mit Glatze zu be-
schäftigen und solche, die stottern. In einer wirklich inklusiven Gesellschaft
müsste es keine Vertuschung von Abweichungen mehr geben, weil gar keine
verbindlichen Normen dazu existieren würden, wie ein perfekter Mensch zu
sein hat. Jeder Mensch wäre von vornherein so akzeptiert, wie er ist.
Bis es hoffentlich irgendwann tatsächlich einmal so weit ist, hilft aber wahr-
scheinlich nur eins: Wie Winnetou in Der Schatz im Silbersee die Friedens-
pfeife rauchen. Nicht mit „Großer Wolf“, sondern mit unseren Abweichungen
vom Ideal. Von daher bräuchten eigentlich alle Menschen eine Nicht-Vermei-
dungs-Therapie à la Charles Van Riper, die Einen im Hinblick auf ihre abste-
henden Ohren, andere, was ihre Pickel betrifft und wir Stotternden eben, was
unser Sprechen anbelangt. Ziel kann nur sein, zur eigenen Person stehen zu
lernen, selbstbewusst und unabhängig von kulturellen Normvorstellungen so-