AUSLAND
Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 107
sischen Separatisten. Formal hätte der Krieg
zu diesem Zeitpunkt längst beendet sein sol
len. Anfang 2015 einigten sich die Ukraine
und Russland im Minsker Abkommen auf
eine Waffenruhe. Tatsächlich wird an der
Front aber bis heute gekämpft. Mehr als
13 000 Menschen sind dabei bislang ge
storben.
Naboschnjak gab damals seinen Job als
ITFachmann bei einer Marketingfirma auf,
weil er fürchtete, dass seine Familie bald
unter der Kontrolle der Separatisten leben
könnte. Heute schildert er mit Tränen in den
Augen, wie er seinem Vater von der Entschei
dung erzählte. Als Soldat war Roman Na
boschnjak für eine Aufklärungseinheit hinter
den feindlichen Linien aktiv, er suchte dort
nach Scharfschützen und Minen. Später
schoss er Kameraden auf dem Rückzug den
Weg frei. Nach seinem Einsatz litt er unter
einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Er sagt, er spreche regelmäßig einen Thera
peuten.
Mit seinem Café wollte Naboschnjak
eigentlich in den Alltag zurückfinden. Sein
Betrieb ist Teil eines Programms, das Vetera
nen die Reintegration erleichtern soll. Na
boschnjak wollte etwas aufbauen, nicht zer
stören. Doch der Krieg lässt ihn nicht los.
Roman Naboschnjak erklärte sich nach
seinem Einsatz bereit, sich bei Bedarf inner
halb eines Tages wieder bei der Armee ein
zufinden. Nun fragt er sich, wer sein Geschäft
weiterführt, wenn er bald wieder an die Front
muss. Er glaubt, dass das nur eine Frage der
Zeit ist. Angst davor hat er nicht, er hofft
sogar darauf – weil dann die Zeit der Unge
wissheit vielleicht vorbei wäre und es einen
wirklichen Frieden geben könnte. Im Mo
ment hat Naboschnjak alle größeren Ent
scheidungen wie Familienplanung oder den
Kauf einer Wohnung auf Eis gelegt. »Ich habe
immer den Eindruck, morgen könnte ich ge
zwungen sein, alles stehen und liegenzu
lassen.«
In den vergangenen Jahren haben Zehn
tausende ukrainische Freiwillige im Osten des
Landes gekämpft. Mithilfe der Freiwilligen
bataillone gelang es dem Militär 2014, zahl
reiche Städte im Donbass zurückzuerobern.
Nach Angaben des ukrainischen Verteidi
gungsministeriums kann der Staat auf
400 000 Kämpfer zurückgreifen. Dennoch
bezweifeln Militärexperten, dass die Ukraine
gegen einen Angriff Russlands gewappnet ist.
Im Dezember warnte der Chef des Militär
geheimdienstes, dass sein Land nur mit Hilfe
gegen russische Truppen bestehen könne.
Der OrchesterIntendantin Anna Stawy
tschenko fällt es schwer zu begreifen, dass
im 21. Jahrhundert überhaupt wieder um
Territorien gekämpft wird. »Haben wir gar
nichts aus dem letzten Jahrhundert gelernt?«,
fragt sie.
Für ihre Arbeit reist Stawytschenko oft ins
Ausland. Lange Zeit pendelte sie dabei zwi
schen Ost und West, wie viele ihrer Alters
genossen. Bis heute pflegt sie Freundschaften
in beide Richtungen. Vor der Pandemie ver
brachte sie als Musikkritikerin jedes Jahr drei
bis vier Monate in der EU. Für eine attraktive
Stelle würde sie auch dauerhaft ins Ausland
gehen. Beim Orchester verdient sie nicht ge
nug zum Leben. Seitdem sie denken kann,
braucht sie mehrere Jobs, um über die Runden
zu kommen. Vor der Annexion der Krim
arbeitete sie oft auch für russische Auftrag
geber. Das käme ihr nun wie Verrat vor. Zu
Putin verliert sie nur wenige Worte: »Wie
können die Russen so lange mit diesem Mons
ter leben?« Roman Naboschnjak fasst sich
noch kürzer: »Er ist der Feind.«
Für Naboschnjak und Stawytschenko geht
es auch darum, den demokratischen Wandel
zu verteidigen, den sie im Winter 2014 auf
dem MaidanPlatz erstritten hatten. Hundert
tausende Menschen waren damals in Kiew
für eine Annäherung an die EU und gegen
den damaligen, prorussischen Präsidenten
Viktor Janukowytsch auf die Straße gegangen.
Auch Naboschnjak und Stawytschenko be
teiligten sich an den Protesten. Naboschnjak
beschaffte Benzin für Molotowcocktails,
Stawytschenko Medikamente für Verletzte,
so erzählen sie es. Beiden ging es dabei we
niger um die Nähe zur EU, sondern vor allem
um Selbstbestimmung. »Wir haben für unser
Land gekämpft, für ein besseres Leben«, sagt
Stawytschenko. »Die EU ist super, aber sorry,
dafür würde niemand sterben.«
Mit den MaidanProtesten wollten viele
Ukrainerinnen und Ukrainer das sowjetische
Erbe loswerden: die Korruption und den
Klientelismus, aber auch die Bevormundung
durch Moskau. Als Janukowytsch das Land
verließ, schien zumindest ein Ziel erreicht.
»Der Maidan hat uns selbstbewusster ge
macht, weil wir gesehen haben, was wir er
reichen können«, meint Stawytschenko.
Die Revolte löste einen Boom in Kiews
Kulturbranche aus. Es entstanden neue Fes
tivals, Galerien und Klubs. Von den Gästen
in Naboschnjaks Café sprechen viele Englisch.
Im Squat 17b begrüßt ein Besucher einen an
deren mit den Worten: »Welcome to the new
Berlin!«
Für Russlands Machthaber Putin ist die
Orientierung der Ukraine an den Westen hin
gegen ein Ärgernis. In einem Aufsatz stellte
er Russen und Ukrainer jüngst zum wieder
holten Mal als ein Volk dar. Roman Na
boschnjak bereitet es Sorgen, dass schon jetzt
wieder über statt mit der Ukraine verhandelt
wird. Ab dem 10. Januar sind Treffen zwi
schen den USA, Russland, der Nato und der
OSZE geplant. Die Ukraine bleibt bei den
Gesprächen weitgehend außen vor.
Die Provokationen Moskaus haben den
Patriotismus in der Ukraine verstärkt. Laut
einer Umfrage betrachteten im vergangenen
Frühjahr mehr als zwei Drittel der Ukraine
rinnen und Ukrainer Russland als Aggressor.
Im Stadtteil Podil mischen sich »Go vegan«
Graffitis mit Liebesbotschaften an die Krim.
Zwischen Stickern der LGBTQIA+ Commu
nity hängen auch nationalistische Bekennt
nisse zur Ukraine.
Roman Naboschnjak hat in seinem Café
die Nationalflagge aufgehängt – wenngleich
in einer der hinteren Ecken. Seine Großmut
ter, die den Großteil ihres Lebens in der
Sowjetunion verbrachte, sah sich noch selbst
als Russin. Naboschnjak betrachtet die
Sowjetzeit dagegen als Besatzung. Obwohl
er mit der russischen Sprache aufwuchs,
versucht er seit einigen Jahren, nur noch
Ukrainisch zu sprechen. Es wirkt wie ein Na
tionalismus aus Trotz.
Als Naboschnjak in den Krieg zog, wollte
er nur seine Familie verteidigen. Heute
scheint es ihm um mehr zu gehen. Einmal
schlägt er mit den Handkanten auf den Tisch,
als er beschreibt, wie seine Einheit Gebiete
zurückeroberte. Der Konflikt ist für ihn erst
dann vorbei, wenn auch die Krim und die
besetzten Teile des Donbass wieder unter
ukrainischer Kontrolle stehen.
Umfragen zufolge würde sich etwa die
Hälfte der Bevölkerung gegen eine neue rus
sische Invasion wehren, militärisch oder zivil.
Auch Anna Stawytschenko sagt, sie würde
wohl kämpfen, wenn sie müsste.
Anfang Januar widmet die OrchesterIn
tendantin all ihre Konzentration der Auffüh
rung des Nussknackers. Regungslos sitzt sie
auf der Kante ihres Sessels, als das Orchester
auf der Bühne dramatische Musik spielt.
Auch im Nussknacker gibt es einen Kampf.
Mit einer Armee aus Zinnsoldaten tritt der
Nussknacker dem Heer der Mäuse entgegen.
Während des Konzerts zeichnet eine Künst
lerin die Szenen auf einer Folie nach. In Ki
nogröße erscheinen sie auf einer Leinwand.
Es braucht nur einen Wisch über die Zeich
nung, damit beide Armeen wieder ver
schwunden sind. Für Anna Stawytschenko
bleibt der Nussknacker trotz dieser Symbolik,
was er immer war: ein Märchen, das sie
seit ihrer Kindheit begleitet. Beim Hinaus
gehen summen manche die vertrauten Me
lodien mit.
Anna Stawytschenko findet, man sollte so
lange wie möglich weitermachen – mit den
Partys, den Konzerten. »Wenn wir uns fürch
ten, haben sie schon gewonnen.«
Ukrainische Soldaten Lina Verschwele n
Brendan Hoffman / Getty Images
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