Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
SPORT

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 115

verzichtet zu haben, lieber auf alter-
native Methoden zu setzen und seine
»körperliche Autonomie« zu wahren.
Der Aufschrei war groß.
Bei Djoković nahm die Empö-
rungswelle einen langen Anlauf.
Er mag der Größte im Welttennis
sein, neunmal hat er allein in Mel-
bourne triumphiert, sechsmal hat er
das Turnier von Wimbledon gewon-
nen. Die Herzen der Fans aber hat er
nie ganz für sich gewinnen können.
Das kann an seinem krankhaften Ehr-
geiz liegen, der viele Tennisfreunde
abgeschreckt hat. Oder am eher be-
fremdlichen Verhältnis zu seinem
Körper, zur Gesundheit, zur Medizin.
2017 und 2018 plagte sich Djoković
mit Problemen im Ellbogen. Die Ärz-
te rieten ihm zu einer Operation,
Djoković weigerte sich und vertraute
auf die Heilkräfte des umstrittenen
Mentalcoaches Pepe Imaz. Erst als
die nichts brachten, ließ er sich ope-
rieren. Imaz, der an seiner Tennis-
schule in Marbella auf Meditation
und die Kraft von ausführlichen Um-
armungen setzt, stand über Jahre an
Djoković’ Seite.
2020 irritierte Djoković die Öf-
fentlichkeit mit einem skurrilen In-
stagram-Video, in dem er anpries,
man könne verschmutztes Wasser mit
der Macht der Gebete in Heilwasser
verwandeln. An seiner Seite hatte er
dabei mit dem selbst ernannten Al-
chemisten Chervin Jafarieh wieder
einen fragwürdigen Berater.
Spitzensport ist heutzutage ohne
wissenschaftliche Hilfe undenkbar.
Leistungsdiagnostiker und Biomecha-
niker durchleuchten die Körper der
Athleten, um kleinste Defizite zu ent-
decken und zu beseitigen. Orthopä-
den, Internisten, Augenärzte und
immer häufiger auch Neurologen hel-
fen den Athleten dabei, sich besser
zu machen. Sie nutzen die neuesten
Erkenntnisse der Wissenschaft. Umso
erstaunlicher ist, dass sich in dieser
Hightech-Welt einige wenige Top-
athleten auf esoterischen Abwegen
befinden. In Deutschland setzte etwa
der Skiläufer Johann Mühlegg vor gut
20 Jahren auf das geweihte Wasser
seiner »Gnade«, einer Frau aus Mün-
chen, die ihm angeblich den Kontakt
zum Heiland im Himmel verschaffte.
Der Hang zur Pseudowissenschaft
einiger Sportler wird als Spleen hin-
genommen, er bekam aber durch die
Pandemie eine neue, gesellschaftliche
Bedeutung. Den Stars wird nicht ver-
ziehen, wenn sie sich ihre eigenen
Regeln machen, während Millionen
Menschen unter dem Virus leiden.
Allein in Djoković’ Heimat Ser-
bien halten sie zu ihrem Superstar.

Dort wagt niemand mehr, ihn zu
kritisieren.
Die Karriere des Weltranglisten-
ersten war geprägt von Beratern, die
eine Wagenburg um ihn bildeten.
Nicht nur Mentalgurus und Alche-
misten, auch seine Familie schirmte
ihn ab. Seine Brüder Marko und
Djordje gehören dazu, vor allem aber
ist es sein Vater Srdjan, der sich,
koste es, was es wolle, vor seinen
Sohn stellt.
Auf einer Pressekonferenz am
Donnerstag verglich er seinen Sohn
mit Jesus Christus. »Jesus wurde ge-
kreuzigt, ihm wurde alles angetan,
und er ertrug es und lebt immer noch
unter uns«, sagte Srdjan Djoković.
»Jetzt versuchen sie, Novak auf die
gleiche Weise zu kreuzigen und ihm
alles anzutun.«
Vater Djoković’ Welt besteht aus
dem Konflikt zwischen Ost und West,
zwischen Arm und Reich, Gut und
Böse. Die Armen, das sind aus seiner
Sicht die Serben, die sich auflehnen
gegen die Reichen und den privi-
legierten Westen. Gegenüber dem
serbischen »Telegraf« sprach er von
»gierigen Mitgliedern der Weltoligar-
chie«. Immer wieder wittert er eine
Verschwörung gegen Serbien – und
vor allem gegen seinen Sohn.

Peter Ahrens, Jörn Meyn,
Bastian Midasch n

Jetzt läuft Vater Djoković zur
Hochform auf und trommelt gegen
die Feinde seines Sohnes. Man be-
handle ihn »wie einen Kriminellen«,
wütete er. Er befinde sich »in austra-
lischer Gefangenschaft«. Dann ver-
stieg sich der Senior dazu, sein Sohn
sei »von diesem Moment an zum
Symbol und Führer der freien Welt
geworden, der Welt der armen und
benachteiligten Nationen und Völ-
ker«. Novak sei ein »Spartakus« einer
neuen Welt, die »Ungerechtigkeit,
Kolonialismus und Heuchelei« nicht
toleriere.
Je größer die Kritik im Ausland an
Djoković wird, desto mehr folgen da-
heim dem Vater, desto fester wird die
Verteidigungslinie. »Ganz Serbien ist
bei ihm«, ließ Präsident Vučić mit-
teilen, wie man mit dem Tennisstar
umgehe, sei »Schikane«. Es geht
längst nicht mehr um Tennis.
»Hier wird ein nationales Denk-
mal beschützt«, sagt Dario Brentin,


  1. Der Sozialwissenschaftler forscht
    in Wien über nationale Identitäten
    und Sport im postjugoslawischen Ser-
    bien. »Djoković ist größer als Serbien
    selbst. Und deshalb gibt es ein enor-
    mes Interesse, ihn zu schützen«, sagt
    Brentin. »Wird die Marke Djoković
    beschädigt, nimmt auch die Marke
    Serbien Schaden.« Das könne man
    nicht zulassen.
    Viele seiner Landsleute sehen in
    Djoković die Wiedergeburt Serbiens
    nach dem Jugoslawienkrieg. Lange
    war das Land verbunden mit Bildern
    von Massengräbern und Massakern.
    2008 gewann Djoković seinen ersten
    Grand-Slam-Titel – bei den Austra-
    lian Open. Seitdem sind 19 weitere
    dazugekommen. Und mit jedem Sieg
    richtete sich Serbien wieder etwas
    mehr an sich selbst auf. »Er hat das
    Land in ein ganz anderes Licht ge-
    stellt. Die Welt sah nun, dass es auch
    ein anderes Serbien gibt: ein erfolg-
    reiches, kosmopolitisches«, sagt
    Brentin.
    Djoković wurde zum Säulenheili-
    gen, dem auch der größte Unsinn ver-
    ziehen wird. Die Ausflüge ins Esote-
    rische wurden in Serbien kaum kri-
    tisch gesehen. Als der Tennisspieler
    mitten in der Pandemie im Sommer
    2020 eine Wettkampfserie, die Adria-
    Tour, in seiner Heimat veranstaltete,
    als überall sonst in Europa der Sport
    pausierte, wurde er begeistert vom
    Publikum gefeiert.
    Anschließend meldeten sich meh-
    rere der teilnehmenden Profis mit
    einer Coronainfektion ab. Auch No-
    vak Djoković.


Gewinnertyp


Titel von Novak
Djoković bei den
vier großen
Tennisturnieren

S^ Grafik







Australian
Open

US Open

French
Open

Wimbledon

Vater Srdjan
Djoković am
Donnerstag in
Belgrad

Anhänger von
Djoković vor
dem Park Hotel
in Melbourne
Hamish Blair / AP / dpa

Andrej Isakovic / AFP

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