Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 131
Grandioses
Herrsherpaar
STREAMING Im beliebten
Genre der »Macbeth«-Verfi l-
mungen spielte William Shakes-
peares Drama von Machthun-
ger und Verfall schon in einem
Fast-Food-Restaurant in Penn-
sylvania, während eines Ban-
denkriegs in Chicago und in
der Unterwelt Mumbais. Große
Filmregisseure wie Orson
Welles, Akira Kurosawa und
Roman Polanski arbeiteten sich
an dem Stoff ab. Deshalb könn-
te sich der US-Regisseur Ethan
Coen gefragt haben, ob die Welt
wirklich noch eine weitere
Verfi lmung braucht; jedenfalls
hat sein Bruder Joel mit seiner
»Macbeth«-Version erstmals
einen Film ohne Bruder Ethan
gedreht. Das Ergebnis, nun auf
Apple TV+ zu sehen, wirkt wie
mit dem Sandstrahler bearbei-
tet: Coen führt das Stück zu
seinen theatralen Ursprüngen
zurück, entfernt Modernisie-
rung, Verfremdung und das
Überladene früherer Bearbei-
tungen. Komplett im Studio und
in reduzierten Schwarz-Weiß-
Bildern in Szene gesetzt, schlägt
der archaische Sog der Parabel
über Schuld und freien Willen
wieder voll durch. Auch Alter
schützt in Coens Film vor
Gemeinheit nicht, mit Denzel
Washington in der Titelrolle
und seiner Frau Frances McDor-
mand ist das zentrale Paar
nicht mehr jung, aber grandios
besetzt. Und doch stiehlt ihnen
Kathryn Hunter, die in Perso-
nalunion die drei Hexen spielt,
mit unheimlicher physischer
Präsenz die Show. KAE
Im versunkenen
Land
DICHTKUNST Nicht nur die
Zukunft ist ungewiss, auch die
Vergangenheit. Wie unsere
entfernten Vorfahren lebten, in
der sogenannten Steinzeit, das
ist versunkenes Terrain, durch-
aus auch physisch zu verstehen.
Im Doggerland siedelt die
Schriftstellerin Ulrike Draesner,
59, ein spektakuläres Groß-
gedicht an; dort schlägt für sie
»Europas westliches Herz«. Es
lag einmal zwischen England
und dem Kontinent, während
der letzten Eiszeit, und ist heute
von der Nordsee überspült.
Benannt ist es nach früher in
der Nordsee eingesetzten
Fischerbooten, die Dogger ge-
nannt wurden. In ihrem Poem
spekuliert Draesner über die
menschliche Wahrnehmung
einer Welt, von der es keine
schriftlichen Zeugnisse gibt und
deren Sprachen nicht mehr exis-
tieren. Einer längst vergangenen
Zeit, in der Mammuts durch
die Sümpfe zogen und Ereignis-
se wie Regen, Donner und
Blitz noch magische Qualitäten
hatten. In der die ersten Funken
schlugen, wenn man Steine
gegeneinander rieb. Zu den
Klängen, die dabei entstanden,
wurden Gehirnareale aktiv,
die heute noch anspringen,
wenn die Menschen miteinan-
der reden. Und ob die ersten
Höhlenmalereien tatsächlich
den männlichen Jägern zuzu-
ordnen sind – auch das scheint
ein Missverständnis des patriar-
chalen Denkens zu sein, aus
einer Epoche, die beinahe zeit-
genössische Wissenschaftsmode
ist. Die Autorin Draesner,
Professorin am Deutschen Lite-
raturinstitut Leipzig und Über-
setzerin aus dem Englischen,
pendelt im Vokabular zwischen
diesen beiden Sprachen: »ac-
tion. Didn’t I tail you zieht er
ihr fi nger durchs vlies einen um
den / anderen / nimmt sie
nimmt die brache (bracken /
den farn).« Wer da nicht laut
liest, mag, ähnlich wie bei der
Lektüre der Werke von Vo-
kabularartisten wie James Joyce
oder Arno Schmidt, verloren
sein. Für solche aber, die
gern Worte kauen und nicht zu
viel Deut auf Deutung geben,
ist dieses archäologisch-lyrische
Experiment eine Versuchung
wert. ES Washington, McDormand
in »Macbeth«
Der Sternenmann
POPSTARS Am Ende bleiben ein Batzen
Geld und eine Briefmarke. So nüchtern
könnte man die Nachrichten zum 75. Ge-
burtstag (8. Januar) und sechsten Todestag
(10. Januar) des Popstars David Bowie zu-
sammenfassen. Für angeblich mehr als
250 Millionen Dollar wechselten gerade die
Rechte am Werk des britischen Musikers
in den Besitz des Musikverlags Warner
Chappell – und die Deutsche Post legt zum
Jubiläum eine Sondermarke mit Bowies
Konterfei auf, leider mit der falschen Zahl,
denn ein Brief kostet nun einmal 85 Cent,
nicht 75. In den zugehörigen, etwas schnöde
gestalteten Post-Packsets im Bowie-Design
könnte man die soeben erschienene Dreier-
CD-Box des lange unveröffentlichten Al-
bums »Toy« verschicken. Es enthält frühe
Songs, die Bowie zu Beginn der Nullerjahre
aus der Perspektive des nun über Fünfzig-
jährigen noch einmal interpretierte. Seine
damalige Plattenfi rma wollte das Album
wohl nicht herausbringen. Es wirkte mögli-
cherweise zu rückwärtsgewandt für einen
Künstler, der sich in den rund fünf Jahrzehn-
ten seiner Karriere immer wieder neu er-
fand. Bowies erste Verwandlung, vom ver-
sponnenen Science-Fiction- und Jazzfan
zum androgynen, Geschlechterrollen auf-
brechenden Glamrock-Alien Ziggy Stardust
dokumentiert ein Buch: die im Carlsen Ver-
lag erschienene Graphic Novel »Starman«
des Berliner Comiczeichners Reinhard
Kleist. Einen zweiten Teil, der Bowies Ko-
kain- und Ruhm-Rausch-Jahre, seine Auf-
tritte in der Rolle des »Thin White Duke«
und seine ernüchterte, aber elektrisierende
Berlin-Phase schildert, hat Kleist schon in
Arbeit. Die kulturindustrielle Würdigung
des künstlerisch bis heute unschätzbar wert-
vollen Helden scheint also auch für kom-
Abbildung aus »Starman« mende Gedenktage gesichert. BOR
Draesner
Ulrike Draesner: »doggerland«. Penguin;
184 Seiten; 38 Euro.
Isolde Ohlbaum / laif
Reinhard Kleist / Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2021
Alison Rosa / Apple TV+
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