Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 143

Michel Würthle hat sein Leben lang
gezeichnet. Sein Großvater besaß eine
bekannte Wiener Galerie, sein Vater
war Diplomat der österreichischen
Regierung, und Michel, eigentlich
natürlich Michael, besuchte ab 1959
die Werkkunstschule in Köln und lern-
te zeichnen, da war er erst 16. Er war
mit seinen Eltern nach Bonn gezogen,
in die westdeutsche Bundeshaupt-
stadt, wo sein Vater an der Botschaft
Kulturattaché war. Würthle sagt heute:
»Nichts habe ich auf der Werkkunst-
schule gelernt. Ich habe nur imitiert


  • von Gauguin und van Gogh, aber
    natürlich auf Augenhöhe.«
    Die anschließende Zeit an der Wie-
    ner Kunstakademie Anfang der Sech-
    zigerjahre empfand er als bleiern, er
    brach ab, zog nach Italien, wo er in
    einer Fabrik zwischen Arbeitern und
    Besitzern vermitteln sollte, er konnte


Italienisch, denn seine Mutter war
Italienerin.
Auf der Speisekartenzeichnung
der Paris Bar vom 3. Mai 2020 hat er
ein ernstes Selbstporträt gezeichnet
und dazugeschrieben: »Genau heute
Mittag vor 50 Jahren bin ich als Wie-
ner von Paris kommend 1970 in Ber-
lin Tempelhof gelandet. Geboren bin
ich in Hallstatt/See am 7.9.1943.«
Er hatte nur seine Wiener Freunde
Ingrid und Oswald Wiener besuchen
wollen, die in Zehlendorf in einer Vil-
la des Kunstsammlers Heiner Bastian
lebten, außerdem wollte er sich die
Ausstellung seines Freundes Christian
Ludwig Attersee in der Berliner Gale-
rie Rudolf Springer anzusehen. Er hat-
te vor, fünf Tage zu bleiben, doch das
kaputte West-Berlin mit seinen Kriegs-
versehrungen, den großen Straßen
ohne Autos, den Lokalen ohne Sperr-

stunde und dem schlechten Essen ge-
fi el ihm zu gut. Rudolf Springer nahm
Würthle in die Paris Bar in der Kant-
straße mit, sie lag um die Ecke von der
Galerie und wurde von einem echten
Franzosen betrieben. »Und es war
herrlich. So herrlich angeranzt. Wir
bekamen einen Tisch ganz hinten, und
da wusste ich, das wird jetzt am An-
fang ein bisschen was kosten. Da muss
man den Kellnern mal einen Fünfziger
auf die Stirn binden. Beim nächsten
Mal saßen wir schon an einem der
schwarzen Tische.«
Es dauerte noch einige Jahre, bis
Würthle die Paris Bar übernahm, aber
die schwarzen Tische gibt es bis heute,
keine Tischdecke, nicht eingedeckt,
Bartische. Sie sind immer noch schwer
zu bekommen.
Seine Wohnung ist eine Art Ver-
längerung der Paris Bar, kaum ein
Zentimeter Wand ist mehr frei, es
hängt dort die Kunst seiner Freunde
(aus der Sammlung seiner Frau), Kip-
penberger, Richter, Walter Pichler,
Dieter Roth, die sonst in den Museen
der Welt (oder in der Paris Bar) zu
sehen ist. Vorn im Wohnzimmer
scheint die Sonne herein, draußen
glitzert das Wasser im Landwehr-
kanal, doch Würthle zieht es in die
Küche am anderen Ende der Woh-
nung, wo es dunkel ist, an einen klei-
nen Tisch. Das Karzinom sei das Kar-
zinom, aber die Schmerzen vom Leis-
tenbruch fühlten sich heute an, als
»lege dir jemand ein heißes Bügel-
eisen auf die Haut«, sagt Würthle.
Seine zweite Frau schaut in die Kü-
che. Sie kommt aus Dänemark und
ist Ärztin, wie passend.
Unter seiner Wohnung war vor
über 40 Jahren das Exil, Würthles
Lokal vor der Paris Bar. Er hatte das
alte Wirtshaus bei einem Spaziergang
in Kreuzberg am Ufer des Kanals ge-
funden. Es hatte einen schönen Efeu-
garten, und man konnte es pachten.
Ingrid Wiener sollte ein paar öster-
reichische Gerichte kochen, Oswald
Wiener als bekannter Avantgarde-
schriftsteller nur anwesend sein,
Würthle würde den Rest hinterm Tre-
sen machen. Er wusste, dass er das
konnte.
Joseph Beuys, der mit Oswald
Wiener befreundet war, verkaufte
extra eine seiner Skulpturen, der
Erlös stellte das Startkapital fürs Exil.
Die Tische sollten mit weißen Tisch-
decken eingedeckt sein, und es sollte
jeden Tag bis zum Morgen gehen,
Oswald Wiener legte Musik auf. In
Würthles Journalen fi ndet sich auch
eine Speisekarte aus dem Exil vom


  1. Oktober 1974, schon in der gleichen
    gestochenen Schrift wie die Menüs


Würthle-Zeichnungen
und -Gäste:
1 | Kanadische Ex-
Generalgouverneurin
Adrienne Clarkson
2 | Schauspieler
Jack Nicholson
3 | Künstler Christoph
Steinmeyer, Albert
Oehlen, Daniel
Richter 4 | Maler
Markus Lüppertz (r.)
5 | Künstler Kippen-
berger (l.) 6 | De signer
Wolfgang Joop (M.),
Michael Michalsky (r.)

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(c) 2021 Michel Würthle

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