Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

142 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

Er umreißt die Idee seines Lokals so: »Na
ja, es sollte weltberühmt sein. Und gut. Und
scheiße. Vor allem einzigartig. Was mir immer
fürchterlich auf den Wecker gegangen ist, sind
sogenannte Künstlerlokale. Aber es ist natür-
lich ganz wichtig, dass Künstler dort sind.
Aber so wenig wie möglich Politiker.Und
Schauspieler braucht es, die man doch be-
wundert hat.«
Der erste Prominente, der am zweiten Tag
nach der Eröffnung 1979 gekommen ist, war
Freddy Quinn. Er trug einen Anzug ganz aus
schwarzem Nappaleder und bestellte ein
Alsterwasser, wovon niemand in dem Lokal
wusste, was das sein sollte. Aber Würthle
konnte zwei von Quinns Liedern komplett
auswendig grölen. »Aber, na ja, betrunken
musste man schon sein«, sagt er.
Doch nun ist es so, dass die Zeiten sich ge-
ändert haben. Erst kamen die Covid-Erreger,
dann das Karzinom, schließlich der Leisten-
bruch. Noch bevor er die Diagnose bekom-
men hatte, fi ng er, als hätte er die Endlichkeit
der Dinge erkannt, im Februar 2020 mit der
»Paris Bar Press Confi dential«-Material-
sammlung an, die gerade als sechsbändiger
Schuber im Steidl Verlag erschienen ist*. Die
Journale beginnen mit ersten, frühen Speise-
karten der Pandemie, wie immer in Würthles
Handschrift, halb auf Französisch, halb auf
Deutsch, kleine Miniaturen, die einerseits
über die Speisen informieren, die den Gästen
nach Hause geliefert werden mussten, und
zum anderen versuchen, dem trostlosen Ant-
litz der Pandemie immer mal wieder ein
Zwinkern abzutrotzen.
»Come what may I’m gonna be back one
day«, hat er auf eine der Speisekarten ge-
schrieben, obwohl er sich gar nicht mehr
sicher ist, ob er zurückkommt. Und so sind
Würthles Aufzeichnungen auch als Chronik
der pandemischen Bedingungen zu verstehen,
unter denen selbst ein weltberühmtes Restau-
rant wie die Paris Bar ächzt. Wie zum Protest
gegen diese Bedingungen wirft Würthle ihnen
in den Journalen Fotos und Zeichnungen,
Texte, Zitate und Bilder aus den besseren Zei-
ten entgegen, Dokumente von vor der Pan-
demie, vor dem Karzinom, dem Leistenbruch,
vor dem Steuerstrafverfahren, als Kunst, Bei-
sammensein und Exzess nicht nur als möglich,
sondern als sinnstiftend empfunden wurden.
»Don’t you worry about the details«, hat
er auf einige seiner Zeichnungen geschrieben.
Die, die jetzt in der rot-weißen Steidl-Samm-
lung erschienen sind, seien sein Blick zurück.
Zurück ins Bekannte, in sein Leben. Da sei
nichts zu befürchten. Doch inzwischen arbei-
tet er an neuen Zeichnungen, und da wird es
brenzliger. Sie seien der Blick nach vorn und
damit ins Unbekannte, in die Krankheit, in das
Karzinom und das, was danach kommt.
Man könne es nicht wegoperieren, haben
ihm die Ärzte gesagt. Am Hals sei es zu gefähr-
lich. Man könne es nur wegstrahlen und zwei-

mal einen Chemo-Cocktail draufhauen. Zwei
Wochen hat er dafür in die Charité gemusst.
Die Strahlengurus, wie Würthle sie nennt,
sagen, das Karzinom sei kleiner geworden.
»Wir werden Sie durch die nächsten fünf
Jahre bringen«, hatte ein Strahlenguru gesagt.
»Ich danke Ihnen, Herr Professor«, sagte
Würthle. »Aber wie?«
»Das wird sich noch herausstellen.«
»Aber auf das Wie kommt es doch an, Herr
Professor!«

Sein Freund Oswald Wiener, mit dem er
damals das Exil hier gleich unter seiner Woh-
nung betrieben hat, konnte den Krebs einmal
besiegen, doch dann ist er nach sieben Jahren
wiedergekommen. Und beim zweiten Mal ist
er doch gestorben, vor ein paar Wochen war
das erst, Lungenkrebs.
»Das soll mir nicht passieren. Ich muss im
April noch die Ausstellung meiner Zeichnun-
gen in der Villa Griesebach aufbauen«, sagt
Würthle. Er zeichnet jetzt wieder, zeichnet
gegen die Ungewissheit der Krebserkrankung
an. Er ist kein Prominentenwirt (eine Be-
zeichnung, die er selbstverständlich ablehnt)
eines sogenannten Künstlerlokals (ein Be-
griff, den er selbstverständlich verabscheut),
der jetzt auch mal ein bisschen Kunst machen
will nach dem Vorbild seiner Künstlerfreun-
de Martin Kippenberger, Dieter Roth, Walter
Pichler, Markus Lüpertz, Georg Baselitz,
Damian Hirst, Julian Schnabel oder Daniel
Richter.

»Was gibt’s«, fragte
Kippenberger. »Es
gibt Reis mit Sheiß«,
sagte Wühle.
»Zum halben Preis!«

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* Michel Würthle: »Paris Bar Press Confidential«. Steidl;
sechs Bände; 792 Seiten; 75 Euro.

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