Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 31

Es schadet nicht, wenn auch der
Präsident des Europäischen Rats mit
Putin redet. Es ist allerdings bekannt,
dass der russische Präsident von der
EU als Institution nicht viel hält und
lieber direkt mit Mächtigen wie Em-
manuel Macron oder bislang Angela
Merkel – und demnächst mit ihrem
Nachfolger Olaf Scholz – spricht.
Die Weltpolitik nimmt viel von
Michels Zeit in Anspruch. Er reist
gern, besonders nach Afrika. Ende
November – die EU debattierte über
Omikron, die Lage in Belarus und in
der Ukraine – wollte Michel nach Ja-
pan reisen. »What the fuck will er in
Japan?«, fragt ein Brüsseler Insider
ungläubig.
Die Frage ist berechtigt. Die EU
hat einen eigenen diplomatischen
Dienst, es gibt einen Außenbeauftrag-
ten, also eine Art Außenminister. In
Handelsfragen ist die Kommissions-
präsidentin die wichtigste Ansprech-
partnerin für Partnerstaaten. Michel
hat dem wenig entgegenzusetzen. Er
kann weder Geld verteilen wie von
der Leyen, noch hat er das politische
Gewicht, um Konflikte zu lösen oder
Vereinbarungen aushandeln zu kön-
nen. Am Ende musste die Reise we-
gen der Pandemie abgesagt werden.
Bei einem Besuch in Georgien im
April hatte Michel eine Vereinbarung
vermittelt, die die politischen Span-
nungen im Land beilegen sollte. Sie
ist als »Charles-Michel-Abkommen«
in die Geschichte des Landes einge-
gangen. Michel erwähnt das Abkom-
men gern, er tut es auch in Berlin. Es
ist sein größer außenpolitischer Er-
folg, so sieht er das.
Weniger gern erwähnt er die Tat-
sache, dass die größte Oppositions-
partei in Tiflis das Abkommen nicht
akzeptiert und dass auch die Regie-
rungspartei zwischenzeitlich davon
zurückgetreten ist. Die Krise in Geor-
gien ist, anders als Michel es stolz ver-
kündet hat, keineswegs zu Ende. Sein
größter Erfolg ist also keiner.
Über seinen Konflikt mit der Kom-
missionspräsidentin möchte Michel
nicht reden. Den gibt es aus seiner
Sicht nämlich gar nicht. »Sofagate«
ist unglücklich gelaufen, dazu ist alles
gesagt. Aber sonst gehen die beiden
Präsidenten nach Michels Ansicht of-
fen und respektvoll miteinander um.
Schon vor »Sofagate« hat der Rats-
präsident der EU-Kommissionschefin
allerdings mit Nickeligkeiten das Le-
ben schwer gemacht hat. Als zu Beginn
vergangenen Jahres Gespräche zwi-
schen den EU-Spitzen und dem briti-
schen Premierminister Boris Johnson
über die Zukunft der Beziehungen
nach dem Brexit anstanden, wollte

dass Michel es auch wäre. Er soll in
erster Linie die Politik der Mitglied-
staaten koordinieren. Das ist eine
Aufgabe, die vor allem dann Erfolg
hat, wenn man sie nach außen nicht
wahrnimmt.
Der Belgier aber will wahrgenom-
men werden. Seine größte Konkur-
rentin um Aufmerksamkeit sitzt auf
der gegenüberliegenden Straßenseite,
im 13. Stock des gewaltigen Berlay-
mont-Gebäudes. Ursula von der Ley-
en leitet formal nur eine Behörde,
aber eine mit rund 32 000 Mitarbei-
tern, die Hunderte Milliarden Euro
verteilt.
Daraus haben sich schon in der
Vergangenheit Konflikte ergeben.
Doch während seine Vorgänger den
Streit intern ausgetragen haben, hat
Michel daraus einen öffentlichen
Machtkampf gemacht.
Bei einem gemeinsamen Besuch
im April in Ankara wurde die Welt
Zeuge, wie die zwei höchsten Reprä-
sentanten der EU um Macht und An-
sehen ringen. Das Treffen mit dem
türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdoğan war von Michels Protokoll-
team vorbereitet worden. Das Er-
gebnis sah so aus, dass der Ratsprä-
sident neben Erdoğan platziert wur-
de. Von der Leyen musste sich in ei-
niger Entfernung auf ein Sofa setzen.
Der Skandal bekam schnell einen
passenden Namen: »Sofagate«.
Michels Verhalten schadet der EU,
weil der Streit die Gemeinschaft nach
außen hin schwächt. Es schadet auch,
weil der Ratspräsident darüber seine
eigentlichen Aufgaben vernachlässigt.
Viele Regierungen, darunter auch die
deutsche, sind mit Michel unzufrie-
den. Er reise zu viel herum und küm-
mere sich zu wenig darum, die EU-
Gipfel vorzubereiten, heißt es.
Sein Geltungsdrang ist so groß,
dass selbst Weggefährten den Kopf
schütteln. »Der Präsident des Euro-
päischen Rats ist Vorsitzender des
Europäischen Rats, nicht der Präsi-
dent von Europa«, schreibt Michels
ehemaliger Büroleiter François Roux
in einer Analyse, die sich wie eine Ab-
rechnung mit seinem ehemaligen
Chef liest. Michel will offensichtlich
Präsident Europas sein.
Ein Treffen mit Michel in seinem
Büro im Europagebäude im Brüsseler
EU-Viertel. Der Ratspräsident hat
sich Zeit genommen, er weiß, was
seine Kritiker über ihn sagen. Der
Termin ist als Hintergrundgespräch
deklariert, man darf nicht daraus zi-
tieren. Aber klar ist ohnehin: Michel
hält die Kritik für höchst ungerecht.
Den Vorwurf zum Beispiel, dass
er sein Amt vor allem für die eigene

Profilierung nutze. Er mag häufiger
in den Nachrichten sein als seine Vor-
gänger. Aber ist es nicht gut für die
gesamte EU, wenn ihre Leistungen
für alle sichtbarer werden?
Und steht nicht im EU-Vertrag,
dass der Ratspräsident die Gemein-
schaft »in Angelegenheiten der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheits-
politik« nach außen vertreten soll?
Stimmt, aber in Artikel 15 steht auch,
dass er zusammen mit der Präsidentin
der EU-Kommission für Kontinuität
sorgen und »Zusammenhalt und Kon-
sens« zwischen den Mitgliedstaaten
fördern soll.
Zusammenhalt und Konsens för-
dern, das ist mühsam und unglamou-
rös: telefonieren, verhandeln, Kom-
promisse schließen. Ein Ratspräsident
muss sich zurücknehmen können.
Michels Vorgänger Donald Tusk hat
sich selbst als »Chefbürokraten« be-
zeichnet. Das käme Michel nicht in
den Sinn.
Der Belgier versteht sich als Poli-
tiker, nicht als Bürokrat. Das ist Teil
des Problems. Als er im Oktober 2014
als Premierminister seines Landes
vereidigt wurde, war er gerade 38
Jahre alt – der jüngste belgische Re-
gierungschef seit 1841. Seine Koali-
tion hat vier Jahre lang gehalten, das
ist für Belgien nicht schlecht.
Michel ist immer noch jung. Viel-
leicht zu jung für ein Amt, in dem es
darum geht, seinen Ehrgeiz zu zügeln.
Es ist, als würde man Jens Spahn bit-
ten, sich eine Weile zurückzuhalten.
Kann man machen, bringt aber nichts.
Je länger man sich mit Michel
unterhält, desto mehr verfestigt sich
der Eindruck, man habe seine globa-
le Rolle unterschätzt. Neulich etwa
hat er lange mit dem russischen Prä-
sidenten Wladimir Putin telefoniert.
Was genau gesagt wurde, verrät er
nicht. Aber dass es wichtig ist, mit
Russland im Dialog zu bleiben, darf
man wohl schreiben.

Gastgeber Erdoğan
(2. v. r.), Besucher
von der Leyen,
Michel, Çavuşoğlu
am 6. April 2021:
»Sofagate« in Ankara

Michel
versteht sich
als Politiker,
nicht als
Bürokrat.
Das ist Teil
des Problems.

Xinhua / action press

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