Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 47

men in Koblenz zum ersten Mal an
die Öffentlichkeit. Der Mann, der da-
von berichtet, betritt den Gerichtssaal
mit einer Coronamaske und einem
Jogginganzug. Er wird vor Gericht
mit der Kennung Z30/07/19 bezeich-
net, um seine Identität zu schützen.
Z30/07/19 hatte für die Damasze-
ner Bestattungsbehörde gearbeitet,
bis er 2011 vom Geheimdienst ver-
pflichtet wurde, Leichen zu Massen-
gräbern außerhalb der Stadt zu fah-
ren und zu registrieren, wie viele sie
wo begruben.
»Sobald die Laster ihre Türen öff-
neten, verbreitete sich der Gestank«,
erinnert er sich. Blut und Maden sei-
en von den Ladeflächen getropft,
während die Helfer oft mit bloßen
Händen die Körper in die Gräben
wuchteten. Danach, so erzählt
Z30/07/19, sei er zurück in sein Büro
gefahren und habe gemeinsam mit
einem Geheimdienstoffizier die An-
zahl der gelieferten Leichen in ein
Registerbuch geschrieben. Dazu die
Namen und Nummern der Geheim-
dienstabteilungen, aus denen sie ka-
men. Dann habe er Kopien an seine
Vorgesetzten geschickt und das Re-
gister wieder in einem Tresor ver-
staut. Sechs Jahre lang habe er so
Buch geführt – im Schnitt vier Fahr-
ten pro Woche, bis zu 700 Leichen
pro Laster.
Als im vergangenen Februar der
zweite Angeklagte Eyad Alghareib zu
viereinhalb Jahren Gefängnis ver-
urteilt wurde, feierten syrische Op-
positionelle das Urteil als ersten
Schritt gegen die Straflosigkeit des
Assad-Regimes, das seit Jahrzehnten
brutale Gewalt gegen die eigene Be-

völkerung eingesetzt hat, ohne sich
je dafür verantworten zu müssen.
Doch der konkrete Fall spaltete die
Opposition. Nicht nur, weil Alghareib
ein unbedeutender Befehlsempfänger
war, der die längste Zeit bei der
Staatssicherheit als Fitnesstrainer für
die Auszubildenden verbracht hatte
und schon früh desertiert war. Son-
dern auch, weil er letztlich vor allem
aufgrund seiner eigenen Aussagen
beim Asylgespräch verurteilt wurde.
Mehr als fünf Jahre dauerte die
Flucht von Alghareibs Familie. Im Ap-
ril 2018, zwei Wochen nach der An-
kunft in Deutschland, wurde ihm bei
der Asylanhörung die Routinefrage
gestellt: »Waren Sie Augenzeuge,
Opfer oder Täter von Völkermord,
Kriegsverbrechen oder Verbrechen
gegen die Menschlichkeit?« Ja, ant-
wortete er, und erzählte von einem
Einsatz, bei dem sein Kommandeur
in eine friedliche Sitzblockade schoss.
Er habe in diesem Moment die Ent-
scheidung getroffen zu desertieren.
Nur nicht sofort, das wäre lebensge-
fährlich für ihn gewesen und für seine
Familie. Statt zu schießen, habe er
flüchtende Demonstranten festge-
nommen und zum Geheimdienst brin-
gen lassen, zu Raslans Abteilung. Wis-
send, dass ihnen dort Folter drohe.
Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge leitete seine Akte an die
Zentralstelle für die Bekämpfung von
Kriegsverbrechen beim Bundeskri-
minalamt weiter, dessen Beamte Al-
ghareib acht Stunden lang befragten.
Als Zeugen. Bei seiner Festnahme,
ein halbes Jahr später, sagte er, es
müsse sich um ein Missverständnis
handeln. Nicht einmal die Vertreter

der Anklage hielten Alghareib für
einen reuelosen Anhänger Assads,
schrieben sie in ihrem Plädoyer.
Es ist zweischneidig, für die Un-
taten einer Diktatur ausgerechnet
deren Deserteure zur Rechenschaft
zu ziehen. Und es könnte die Wahr-
heitsfindung erschweren, solche Zeu-
gen zu Beschuldigten zu machen.
Allein im Koblenzer Verfahren sagte
etwa ein Dutzend Deserteure aus,
darunter ein Archivar, der Listen mit
Gesuchten an Checkpoints weiter-
leitete, ein Zeuge, der bei Folterver-
hören zugegen war, und ein Kampf-
pilot, der floh, als die Luftwaffe schon
das eigene Land bombardierte. Ihre
Aussagen halfen Straftaten aufzuklä-
ren, zu denen die Männer womöglich
Beihilfe geleistet hatten.
Dass solche Zeugen in Zukunft ge-
nau überlegen werden, was sie preis-
geben, musste Mohammad Al Abdal-
lah bereits feststellen. Der Menschen-
rechtsanwalt, früher selbst in Syrien
inhaftiert, ist Direktor des Syrian
Justice and Accountability Centre in
Washington. Fast wäre es seiner Or-
ganisation gelungen, Videos von Exe-
kutionen in syrischen Militärkranken-
häusern von einem Deserteur zu er-
halten. »Wir sprachen schon mit ihm
darüber, wie er sich verhalten könnte,
falls er als Zeuge aufgerufen würde.
Aber nach dem Fall in Ko blenz hat er
sich dagegen entschieden. Er sah, dass
einer, der als Zeuge gekommen war,
nun angeklagt wurde.«
Er halte es für wichtig, dass die
Überlebenden ihre ehemaligen Peini-
ger vor Gericht sehen, sagt Abdallah:
»Aber wir sollten ehrlicher sein, was
wir mit diesen Prozessen erreichen
können. Wenn man sagt, dass das Ver-
fahren gegen Raslan zugleich den
gesamten Geheimdienstapparat in
Syrien anklagt, klingt das symbolisch
gut. Aber dieser Apparat hat nie auf-
gehört zu arbeiten. Der Prozess wird
keine abschreckende Wirkung in Sy-
rien haben. Im Gegenteil, jetzt wird
erst recht niemand mehr überlaufen.«

Christoph Reuter, 53, ist Nahost­
korrespondent des SPIEGEL. Seit 2011
berichtet er über den Krieg in Syrien,
er hat die wahllosen Angriffe auf Zi­
vilisten in Homs, Aleppo und anderen
Orten erlebt. 2013 traf er den Über­
läufer Raslan in Amman. Im Prozess
in Koblenz sagte er als Zeuge aus.
Hannah El­Hitami, 30, ist freie
Journalistin in Berlin und beschäftigt
sich besonders mit Nahost­ und
Migrations themen. Sie hat den Pro­
zess in Koblenz an fast 100 Verhand­
lungstagen begleitet. n

»Wir sollten
ehrlicher sein,
was wir mit
solchen Pro-
zessen errei-
chen können.«
Mohammad Al
Abdallah, Men-
schenrechtsanwalt

Syrischer Präsident
Assad mit Soldaten
2013: In Koblenz
steht das gesamte
Unterdrückungs­
system vor Gericht

AFP

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