Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
lich auch: für Aufklärung, Pressefrei-
heit, für die Kontrolle derer, die re-
gieren oder anderweitig mächtig sind.
Es waren aber längst nicht nur
SPIEGEL-Leser, die 1962 in der ge-
samten Republik lautstark zur Unter-
stützung des Blattes unterwegs wa-
ren, vor allem aber vor dem Unter-
suchungsgefängnis, in dem Rudolf
Augstein saß. »SPIEGEL tot – die Frei-
heit tot« skandierten sie, und mög-
licherweise wurde auch Rudolf Aug-
stein und seiner Redaktion da erst
richtig klar, welche Bedeutung dieses
»Hamburger Nachrichten-Magazin«
für die westdeutsche Demokratie hat-
te. Heute wirkt es nicht einmal be-
sonders aufrührerisch, was den He-
rausgeber und seinen stellvertreten-
den Chefredakteur Conrad Ahlers ins
Gefängnis gebracht hatte.
Aber Franz Josef Strauß, damals
Verteidigungsminister, hatte die Ge-
legenheit genutzt und versucht, die
lästige Redaktion zum Schweigen zu
bringen. Der Fall löste sich schnell
von der Frage, ob die Bundeswehr
ausreichend verteidigungsbereit sei,
und wurde zu einer öffentlichen Ver-
handlung über Freiheit und Grund-
rechte in der jungen Bundesrepublik.
Und letztlich auch zu einem der
Auslöser der 1968er-Bewegung. Die
SPIEGEL-Affäre schuf das Bewusst-
sein, dass diese Demokratie in
Deutschland 17 Jahre nach dem Ende
des Nationalsozialismus noch alles
andere als selbstverständlich war.
Das Ziel der Berichterstattung ist
dasselbe geblieben, die Zeiten sind an-
ders. Gefahrlos darf die Redaktion
über Präzisionsprobleme bei Sturm-
gewehren der Bundeswehr schreiben;
schwer vorstellbar, dass ein Chefredak-
teur dafür ins Gefängnis gehen müsste.
Schwer vorstellbar aber auch, dass
Menschenmassen Seite an Seite mit
dem SPIEGEL, der »Zeit« oder wem
auch immer durch die Straßen ziehen –
ja, sie ziehen durch die Straßen, und
um Medien geht es auch, aber »Lügen-
presse!« hört man jetzt dort.
Wenn der SPIEGEL noch das
»Sturmgeschütz der Demokratie« ist,
als das Rudolf Augstein ihn einst sah,
dann rollt er auf anderem Territo-
rium. Social-Media-Kanäle haben die
Exklusivität der etablierten Medien
gebrochen und allen die Möglichkeit
verschafft, zu Produzenten von Nach-
richten und Falschnachrichten zu
werden.
Für uns ist da draußen Konkur-
renz, aber eben auch: Korrektiv. Feh-
ler fliegen schneller auf. Es kommen
dann nicht mehr wie früher hand-
geschriebene Briefe in Sütterlin, son-
dern Tweets und Posts. Es kann pas-

sieren und passiert auch, dass die
Schwarmintelligenz korrigierend ein-
greift, nachdem wir berichtet haben;
das muss verarbeitet werden, auch
wenn es zum ursprünglichen SPIEGEL,
der den Anspruch erhob, es grundsätz-
lich besser zu wissen, nicht passt.
Diese Einsicht fällt heute leichter,
da sich ja auch der SPIEGEL verändert
hat. Er ist nicht mehr nur ein Heft,
sondern auch eine Website mit Pod-
casts und Videos. Die Redaktion ist
im Durchschnitt etwa 44 Jahre alt,
besteht zu 42 Prozent aus Frauen.
Das sind deutlich mehr als in den frü-
hen Jahren, in denen eher ausnahms-
weise mal die eine oder andere Re-
dakteurin im Impressum stand.
Und diejenigen, für die wir schrei-
ben? Was wissen wir über sie?
Eine Allensbach-Befragung von
2021 ergab dies: eher akademisch,
eher evangelisch, wenn überhaupt
religiös. Zu 92 Prozent an Politik in-
teressiert, zu 70 bis 90 Prozent an
Wirtschaft, Wissenschaft, Natur- und
Umweltschutz, aber auch an Bezie-
hungsfragen (71 Prozent), an Kinder-
erziehung (49 Prozent). Weiblich?
37 Prozent. Bei den Abonnenten-
daten ergab eine aktuelle Auswertung
30 Prozent Frauen.
Immer noch gilt: Mehr Männer
abonnieren, mehr Männer lesen das
Blatt, mehr Männer schreiben an die
Redaktion. Mehr Männer sagen
schnell und freudig Ja, wenn man sie
fragt: »Möchten Sie uns Ihre An-
sichten über den SPIEGEL erklären?«
Aber auch das kann sich ja irgend-
wann ändern.
Wir haben jedenfalls Interesse da-
ran. Journalismus kann heute nicht
mehr nur senden, nicht mehr nur Bot-
schaften verbreiten, sondern muss
auch Empfänger sein. Vielleicht wäre
jetzt manchmal weniger Gebrüll auf
den Straßen und im Netz, hätten wir
und andere schon früher intensiver
nachgefragt, genauer hingehört.
Der Blick von außen ist uns wich-
tig bei unserem Jubiläum, auch in
diesem Heft.
Deshalb geht es auch um die Be-
richterstattung des SPIEGEL über den
Osten Deutschlands (Seite 68) und
eine bessere Kommunikation in Kri-
sen wie der derzeitigen Pandemie
(Seite 72). Wir haben zudem Fragen
gesammelt und beantwortet, die Le-
serinnen und Leser dem SPIEGEL ge-
stellt haben (Seite 60 ). Und wir wa-
ren unterwegs, um selbst zu fragen:
Was wollen Sie wissen? Welchen
Journalismus wünschen Sie sich? Was
sollten wir anders machen? Die Stim-
men dazu stammen von Frauen und
Männern quer durch die Republik.

Häufig fiel der Satz: Ich fange hinten
beim Hohlspiegel an. Manche sagen
aber auch, sie lesen von vorn nach
hinten, Stück für Stück. Der eine liest
im Sessel und hält Zettel und Stift für
Notizen bereit, die andere lässt sich
bei der Gartenarbeit vorlesen, was im
SPIEGEL steht.
Die Erfahrung in der Redaktion
ist immer wieder, dass wir offenbar
nicht für jede und jeden dasselbe ge-
schrieben haben. Manchmal wundert
man sich, wie unterschiedlich Men-
schen denselben Text verstehen, ge-
prägt von Erwartungen, Vorwissen,
Gefühlen.
Eine schöne Vorstellung: dass im
SPIEGEL Beiträge zu finden sind, die
zu dem einladen, was die amerikani-
sche Gehirnforscherin Maryanne
Wolf »tiefes Lesen« nennt. Dass es
also möglich wird, so drückt sie es
aus, über die beschriebenen Ideen
hinaus »zu Gedanken zu gelangen,
die zunehmend autonom, transfor-
mativ und letztlich unabhängig vom
geschriebenen Text sind« – eine An-
eignung des Textes also, mit Anreiz
zum Weiterdenken.
Der Anspruch an uns besteht da-
rin, dass wir geprüfte Ware liefern,
gut recherchierte »Storys«, wie es im
SPIEGEL früher hieß, und dass wir aus
Fehlern lernen.
Er besteht auch darin, dass wir uns
mit den Fragen beschäftigen, die vie-
len von Ihnen wichtig sind. Den An-
spruch, dass die Antworten darauf
genau die Ihren sind, gibt es nicht.
Auch nicht darauf, dass wir Wohl-
gefühl verbreiten.
Wir werden weiterhin denen auf die
Nerven gehen, von denen wir denken,
dass sie es verdienen. Werden versu-
chen, Fakten und Falsches mit kühlem
Kopf einzuordnen, anschaulich zu ma-
chen, Übersicht zu schaffen – Erkennt-
nisgewinn, für Sie, für uns.
Wir sind neugierig, wer Sie sind,
um es dann beim Schreiben auch wie-
der mal zu vergessen. Denn nur zu
schreiben, was erwartet wird, ist nicht
unser Job, es kann faul sein oder fei-
ge und würde nur enttäuschen.
Wenn auch Sie neugierig auf
uns sind, schreiben Sie uns (an
[email protected]). Wir laden Sie dann
ein, uns über die Schulter zu schauen
und mit Redakteurinnen und Redak-
teuren zu diskutieren.
Wie sagte einst (in anderem Zu-
sammenhang) Fritz Kortner, der gro-
ße Film- und Theaterregisseur? »In
jedem von uns lauert ein Abonnent.«
Wir hoffen, dass er recht hat. Viel-
leicht auch immer mal wieder – eine
Abonnentin?

»In jedem
von uns
lauert ein
Abonnent.«
Fritz Kortner,
Theaterregisseur

SQuelle: Umfrage unter
4221 SPIEGEL-Lesern ab
16 Jahre vom 2. bis 18. März
2021; Antworten »sehr
gerne«, »gerne«; an 100
fehlende Prozent: »weniger
gerne«, »gar nicht gerne«

Informiert


Umfrage unter
SPIEGEL-Leserinnen
und -Lesern: »Welche
Textformen lesen Sie
gerne?«, in Prozent

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2022-02SPAllTitel468512202_JubilaeumDeckelstueck-050052 522022-02SPAllTitel468512202_JubilaeumDeckelstueck-050052 52 06.01.2022 22:44:0306.01.2022 22:44:03

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