Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
Ein Spannungsverhältnis ist es wohl immer
zwischen denen, die ein Blatt machen, und
denen, die es lesen. Manchmal ist es wie in
einer Beziehung: Man verkracht sich und fin-
det wieder zueinander, entfremdet sich oder
beschließt, dass man sich trotz gelegentlichen
Ärgers die Treue hält. Wie sehen uns die Lese-
rinnen und Leser? Wir haben nachgefragt,
bei den Treuen, den Kritischen, bei denen, die
uns verloren gingen: was ihnen dieses Blatt
bedeutet oder bedeutet hat, was sie sich wün-
schen, was sie stört. Wir sprachen Abonnen-
tinnen und Abonnenten an, Menschen, die
uns häufig schreiben, und solche, die mit uns
diskutiert haben, 2018 auf einer Konferenz
bei uns in Hamburg. Hier sind 13 Antworten,
beginnend im Wohnzimmer eines Mannes, der
einen wichtigen Moment in seinem Leben mit
dem SPIEGEL teilt.

Am Tag der ersten Ausgabe des SPIEGEL, dem


  1. Januar 1947, kam auch Jürgen Abraham
    aus Essen-Kettwig auf die Welt. Es war ein
    Samstag.
    Knapp 75 Jahre später sitzt er neben seiner
    Frau in ihrem kleinen Haus am Tisch, draußen
    liegt Heiligenhaus, nahe Kettwig, wo sie ihr
    Leben geführt haben mit zwei Jungs, die mitt-
    lerweile groß sind.
    Abraham, ein großer Mann, noch sportlich,
    war 38 Jahre lang Mathe- und Physiklehrer
    und warnt deshalb, seine Betrachtungen sei-
    en eher »kurz und knapp«.
    Dabei hatte er dem SPIEGEL einen Brief
    geschrieben, der fast emotional war. Er »hän-
    ge« am SPIEGEL. In Urlauben mussten sie
    schon kilometerweit fahren, um ihn zu kaufen,
    einmal zehn Kilometer in Griechenland, dann
    Ägypten, »da war es auch schwierig gewesen«.
    Er sagt das alles mit dem Dialekt der Gegend,
    »schwierrrich«.
    »Kann ich bestätigen«, sagt seine Frau, sie
    stammt aus Frankreich, Haarreif, Pagenkopf,
    feine goldene Ohrringe, eine eher ruhige Frau.
    Es gibt feste Rituale im Hause Abraham.
    Mit dem SPIEGEL wird wie folgt verfahren:
    Jürgen Abraham kauft ihn samstags, liest da-
    rin bis Donnerstag oder Freitag, gibt ihn wei-


ter an seinen Sohn, der ihn aber wieder ab-
geben muss, weil der Vater eventuell noch
etwas nachlesen möchte, und, das ist die
Hauptsache, weil er das Titelblatt braucht.
Er reißt es dann vorsichtig ab, legt es auf
einen Stapel, den er oben in seinem Zimmer
unterm Dachboden hat. Vier Stapel sind es
mittlerweile, und zwei hat er heruntergetra-
gen ins Wohnzimmer für den Besuch.
Sie liegen auf dem Regal in der Schrank-
wand, links die Stereoanlage. Obendrauf:
»Die 100 000 Augen des KGB«, 2. Juli 1984.
Er greift mitten in den Stapel: »Die große
Pleite – Wirtschaften im Kommunismus«,


  1. Januar 1982. Greift noch mal hinein: »0 %
    Lohnerhöhung?«, 9. März 1981.
    Er setzt sich zurück an den Tisch. »Viel-
    leicht machen wir eine Glasscheibe auf den
    Tisch und legen ein paar Titel drunter«, sagt
    er. Seine Frau schüttelt stumm den Kopf.
    Abrahams Eltern hatten ein Baugeschäft,
    es war die Nachkriegszeit, sie arbeiteten
    viel. Mit 16 Jahren, als der Junge Probleme
    im Fach Deutsch hatte, bekam er Geld, um
    den SPIEGEL zu kaufen. Gleich in einer der


ersten Ausgaben war ein Bericht über den
Zweiten Weltkrieg, und in der Oberstufe im
Gemeinschaftsunterricht half ihm das. »Konn-
te ich glänzen«, sagt er zufrieden am Tisch.
Er liest ihn von hinten nach vorn, beginnt
mit dem Hohlspiegel, sein Sohn schneidet die
besten Hohlspiegel aus und sammelt sie.
Hatte er nie eine Krise mit dem SPIEGEL?
»Ich bin nicht krisenanfällig«, sagt Abra-
ham, wie angekündigt, kurz und knapp.
Auch nach Relotius nicht?
»Sagen wir so: fand ich entsprechend nicht
so gut.«
Nie fremdgegangen, etwa mit der »Zeit«?
»Liest sich schlecht im Bett wegen des
Formats.«
»Focus«?
»Sind mir die Artikel zu kurz«, sagt er.
Seine Frau hat er vor 54 Jahren in Süd-
frankreich kennengelernt, er war als Student
mit einer Gruppe an der Côte d’Azur, sie
machte Urlaub. Seit 48 Jahren sind sie ver-
heiratet.
»Wenn ich mich für etwas entscheide, ziehe
ich es möglichst durch«, sagt Jürgen Abraham.

Solche Treue ist selten; in den meisten Fällen
ist die Bindung zwischen Lesenden und Lese-
stoff ja eher volatil. In den Protokollen, Texten
und Interviews, die jetzt folgen, machen sich
Ärger oder Zustimmung oft an bestimmten
Themen fest. Eines davon, selbstverständlich
in diesen Zeiten: Corona.

Jürgen Göbel, 57, Dresden, Industriekaufmann:
»2015, während der Flüchtlingskrise, war ich
zum ersten Mal verwundert über die Bericht-
erstattung. Auch beim Thema Klimawandel
habe ich Artikel vermisst, die Kritiker an-
gemessen zu Wort kommen lassen. Zum
Bruch zwischen der SPIEGEL-Redaktion und
mir kam es in den vergangenen zwei Jahren,
während der Pandemie. Meiner Meinung
nach wird berechtigte Kritik, auch von Ex-
perten, unterdrückt. Zu oft fehlt es an der
nötigen Distanz zur Arbeit der Regierung.
Natürlich leugnet niemand, der halbwegs bei
Verstand ist, die Existenz des Virus und der

BLATTKRITIK (^)
»Ich ärgere mich über den
SPIEGEL. Und lese ihn weiter«
Wir schreiben, Sie lesen. So war das immer. Jetzt drehen wir die
Sache um: Sie reden, erzählen, kritisieren. Wir hören zu.
Abonnentin Engel
Maurice Weiss / DER SPIEGEL
54 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
TITEL 75 JAHRE DER SPIEGEL
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