Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
einem wunderschönen Titelbild Karl-
Theodor zu Guttenberg und seine Frau
hochgejubelt – im Boulevardzeitungs-
stil. Das ist mir sehr aufgestoßen.
SPIEGEL: Warum?
Morgenthaler: Weil ich ihn damals
schon für eine Luftnummer hielt.

War der SPIEGEL früher, als der Stu-
dent Hans Morgenthaler ihn zu lesen
anfing, »im Zweifel links«, wie Rudolf
Augstein es formulierte? Ist er nach
links gedriftet, wie manche meinen?
Oder keines von beidem? Haben sich
eher die Lesenden verändert? Die
Schreibenden? Oder die Welt?

Beatrix Sommer-Locher, 71, Bad
Schussenried, Tierärztin: »In der
Familie meines Mannes war der
SPIEGEL Standardlektüre, seit es den
SPIEGEL gibt. Das waren und sind
SPD-Wähler, egal was passiert. Das
Heft lag immer auf dem Klo. In mei-
ner Familie war es der Schreibtisch
des Vaters, obwohl der sehr konser-
vativ war, anders als mein Schwieger-
vater. Ich lese ihn seit Uni-Zeiten, und
auch bei uns liegt er zuerst auf dem
Klo, dann wandert er durchs Haus.
Wir haben drei Kinder, und An-
fang der Achtziger war ich bei den
Grünen aktiv, das war meine grüne
Phase. Mein Engagement für die Um-
welt ist aber immer noch da. Wir ha-
ben rund 20 Islandpferde, Schweine,
Hühner, eine kleine Landwirtschaft,
aber politisch stehe ich jetzt auf der
anderen Seite. Mir fehlt im SPIEGEL
die Gegenstimme. Mir fehlt etwa Jan
Fleischhauer. Es gibt eine breite The-
menvielfalt, aber das Heft ist einsei-
tiger geworden. Deswegen konnte
sich Claas Relotius so lange halten.
Weil er das schrieb, was gewünscht
wurde und ins Bild passte. Zum Bei-
spiel: Bei der Coronakrise unter
Trump wurden gern die absoluten
Fallzahlen gezeigt, die natürlich sehr
hoch waren. Der Sinn dahinter:
Trump riskiert das Leben der Ameri-
kaner. Mir fehlt es manchmal auch an
Respekt vor den Beschriebenen. Wie
kann man schreiben, ein Mainschiffer
sei dick und habe fettiges Haar? Das
muss nicht sein. Immer mal wieder
tritt der SPIEGEL aus seiner Einseitig-
keit, so wie kürzlich mit dem Essay
von Jonathan Rauch über linke
Cancel Culture. Dafür schätze ich den
SPIEGEL.
In meiner Familie gibt es Impf-
skeptiker, und ich weiß, was sie an
Hass und Hetze ertragen müssen.
Man darf sie nicht stigmatisieren, es
sind kluge Leute darunter. Deswegen
ärgere ich mich über den SPIEGEL.
Und lese ihn weiter.«

Lüder Gause, 69, Rechtsanwalt, hat
gekündigt. Er weiß nicht mehr, wann
genau, kurz nach dem Relotius-Skan-
dal. Die Entscheidung sei aber bereits
einige Monate davor gefallen.
Gause sitzt in seinem Büro unweit
des Hamburger Hauptbahnhofs und
erinnert sich an jene Zeit, als in Ham-
burg noch Innensenator Ronald Schill
für Ordnung gesorgt habe, Anfang
der Nullerjahre: »Die Drogendealer
vor unserer Tür waren plötzlich weg.«
Damals habe er noch regelmäßig den
SPIEGEL gekauft, er sei nicht mit allen
Texten einverstanden gewesen, aber
er habe sich am SPIEGEL reiben kön-
nen, wie einst sein Vater.
»Mein Vater war Prokurist in
ei nem Getreidehandel, er las den
SPIEGEL von der ersten Ausgabe an.
Nach seinem Tod blieben auf dem
Dachboden die SPIEGEL-Stapel lie-
gen, die Jahrgänge 1946 bis 1998. Sie
stanken. Er hatte bei der Lektüre im-
mer geraucht, Zigaretten der Marke
›Botschafter‹. Ich konnte die Hefte
nicht wegwerfen. Bis zum Brand in
unserem Haus. Danach musste ich
SPIEGEL-Asche entsorgen. Sie war
Sondermüll.«
Der Vater habe ihm eingeschärft:
Wenn alle in eine Richtung laufen,
lauf in die andere Richtung. »Der
Spruch ist bis heute aktuell. Der
SPIEGEL aber hat sich verändert. Er
ist nicht mehr kritisch. Demonstrie-
ren die Rechten, heißt es: Aufmarsch.
Bei den Linken heißt es: Rangeleien,
obwohl sie Gewalt anwenden. Der
SPIEGEL haut auf Polens Justizsystem
ein, ohne auf die Mängel des deut-
schen hinzuweisen. Er versucht, mich
zu erziehen. Ich will weniger Haltung,
mehr Information.«
Dieses Unbehagen habe auf einer
Leserkonferenz 2018 seinen Höhe-
punkt erreicht. Ein Redakteur habe
ihm an dem Tag in der SPIEGEL-
Zentrale an der Ericusspitze gesagt:
»Selbstverständlich vermischen wir
Meldung mit Haltung.« Er sei scho-

ckiert gewesen, habe zum damaligen
Chefredakteur rübergeschaut. Der
habe nicht widersprochen.
Seit 2019 liest Gause den SPIEGEL
nur noch online und zahlt kein Geld
mehr für Artikel. Auch die Art, wie
der SPIEGEL über Covid berichte, ge-
falle ihm nicht.

Fakten und Haltung zusammenzu-
bringen – darf man das? Muss man
es? Der SPIEGEL hat es immer getan.
So steht es im SPIEGEL-Statut von
1949: Das Blatt »beurteilt die Dinge
zwar, aber die Bewertung soll mög-
lichst in der Schilderung enthalten
sein«. Um die Deutung, um die Ge-
wichtung von Fakten und Ereignissen
geht es. Aber die Wege dorthin müssen
nachvollziehbar sein. Offenheit für
die andere Seite, auch das zählt. Und
kann, wie die nächsten beiden Begeg-
nungen, bereichernd sein. Die erste
findet in Berlin statt, zwischen Max
Polonyi, der für den SPIEGEL schreibt,
und einem Mann, der ihn liest.

Ich traf Steffen Stahnke an einem Mit-
tag im Dezember in einem überteu-
erten Café in Mitte. Ich kannte nur
Stahnkes Namen und seine E-Mail-
Adresse, Anfang dreißig sollte er sein,
genau wie ich. Ich erwartete ein ent-
spanntes Gespräch mit einem Alters-
genossen.
An einem Tisch in der Mitte saß
ein Mann allein, in gebügeltem Hemd,
Anfang sechzig, durchgestreckter Rü-
cken, vor ihm auf dem Tisch lag eine
Mappe. Ich setzte mich in eine Ecke
und wartete. Stahnke schien noch
nicht da zu sein. Plötzlich stand der
Mann mit der Mappe auf, kam auf
mich zu und sagte: »Herr Polonyi?«
»Ja?«, antwortete ich. »Aha«, sagte
der Mann. »Stahnke, angenehm.«
Er öffnete die Mappe. Darin lag
ein Stapel ausgedruckter Texte aus
dem Heft, viele Sätze waren gelb
markiert. Ich sah, dass ein paar der
Texte von mir waren. Ich bestellte
einen dreifachen Espresso.
Stahnke erzählte, dass er 62 sei
und aus Berlin-Tempelhof. Er habe
lange im Vertrieb einer IT-Firma ge-
arbeitet und einen großen Teil seines
Berufslebens in Zügen verbracht. Er
kaufe seit den Siebzigerjahren den
SPIEGEL. Das Magazin sei für ihn oft
alternativlos, um Bescheid zu wissen.
Ich lächelte und lehnte mich zurück.
»Aber«, sagte Stahnke und zog
einen Text aus der Mappe. Es war
eine Geschichte über den Schlager-
sänger Heino, der sich mit der Ton-
halle Düsseldorf über das Wort
»Deutsch« gestritten hatte. Ich hatte
Heino in Kitzbühel besucht, und er

SQuelle: Umfrage unter
4221 SPIEGEL-Lesern ab
16 Jahre vom 2. bis 18. März
2021; Bewertung auf einer
Notenskala von 1 »gar nicht
wichtig« bis 6 »sehr wichtig«;
Antworten mit Note 5 oder 6;
an 100 fehlende Prozent:
andere Noten

Kontrovers


Aspekte, die den
befragten SPIEGEL-
Leserinnen und
-Lesern wichtig sind,
in Prozent

verschiedene
Meinungen und
Argumente
kennenlernen

über Missstände in
der Gesellschaft
informiert werden
70
verstehen, wo große
Entwicklungen in
der Gesellschaft
hinführen

71

64

19

Texte lesen, die
auch leichtere
Themen behandeln,
ohne banal zu sein

Leserbriefschreiber
Morgenthaler:
»Bei der Grammatik
stehen mir oft
die Haare zu Berge«

Maurice Weiss / DER SPIEGEL

56 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

TITEL 75 JAHRE DER SPIEGEL

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