Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
und ihr im Hintergrund einfach schaut, wie ihr
das Geld untereinander verteilt? Klaus Reichert
Lieber Herr Reichert,
wir haben öfter mit kreativen Bezahlmodellen
experimentiert, etwa dem Kauf einzelner Ar-
tikel auf SPIEGEL.de oder dem Online-Text-
kiosk Blendle. Tatsächlich haben wir damit
nie genug Geld verdient, um unsere Redak-
tion zu fi nanzieren. Den Umschwung hin zu
einer nachhaltigen Finanzierung haben Digi-
tal-Abos gebracht, die bei uns gut 20 Euro
pro Monat kosten.
Auch früher wollten Leserinnen und Leser
nicht gleichzeitig für die »Zeit«, die »SZ« und
den SPIEGEL bezahlen. Dass es solche Titel
noch gibt, liegt daran, dass jede Redaktion
über die Jahrzehnte ein Profi l entwickelt hat,
das sie bezahlenswert macht. Diesen Mei-
nungsmarkt durch eine Digital-Flatrate auf-
zulösen wäre weder wettbewerbsrechtlich
trivial noch demokratiefreundlich. Stefan Ottlitz
(Geschäftsführer und Produktchef)

Wie wird aus einer Nachricht eine Nachricht?
Ich meine zum Beispiel Auswahlkriterien bei
der Nachrichtenagentur? Ein wenig mehr Pa-
norama, normale Alltagsthemen ohne Corona?
Für etwas mehr Unterhaltung ... in these days.
Katja Muder-Köcegün
Liebe Frau Muder-Köcegün,
unsere Leitlinien am sogenannten Newsdesk,
wo wir entscheiden, was wir an großen Storys
und schnellen Nachrichten auf der SPIEGEL-
Homepage präsentieren, sind: Wir wollen
unsere Leserinnen und Leser fortlaufend über
die wichtigsten Themen des Tages informie-
ren und sie dabei gut unterhalten.
Im besten Fall präsentieren wir Ihnen also
eine News-Mischung aus beidem: Wir mel-
den, welche wichtigen innen- und weltpoliti-
schen Entscheidungen getroffen werden, was
am Aktienmarkt los ist, welche relevanten
Gerichtsurteile gefallen sind, wo sich Natur-
katastrophen abspielen, welche Filmpreise
verliehen werden, was im Sport passiert.
Wir wollen Ihnen aber auch sagen, wie das
Wetter wird, warum ein bestimmter Holly-
woodstar in den Schlagzeilen ist, warum eine
Autobahn über Stunden gesperrt wurde – und
haben eventuell noch Zeit für die Kuriositäten
des Alltags. Wenn Sie sich nach dem Stöbern
durchs Newsprogramm auf der Seite also bes-

tens informiert fühlen, staunen konnten
und auch mal gelächelt haben, haben wir
alles richtig gemacht. Patricia Dreyer (Chefi n vom
Dienst SPIEGEL.de)

Warum widmet der SPIEGEL nicht auch inter-
nationalen Themen mehr Aufmerksamkeit und
Gewicht, die gerade nicht Mainstream sind?
Susanne Rau
Liebe Frau Rau,
der SPIEGEL gehört zu den wenigen deut-
schen Medien, die mit einem großen Kor-
respondentennetz aus aller Welt berichten:
Rund zwei Dutzend feste Korrespondentin-
nen und Korrespondenten arbeiten für uns
im Ausland. Wir haben zusätzlich Reporte-
rinnen und Reporter, die von Hamburg und
Berlin aus regelmäßig in die Welt reisen, so-
wie Fachredakteurinnen und Nachrichten-
experten.
Unser Ziel ist: Wir sind im Zweifel vor Ort,
wenn etwas geschieht – und wenn nicht, wol-
len wir uns so gut auskennen, dass wir es aus
der Ferne analysieren und erklären können.
Im SPIEGEL-Magazin gibt es wöchentlich
nur Platz für etwa fünf Auslandsgeschichten.
Auf unserer Website fi nden Sie hingegen –
neben vielen aktuellen Nachrichten – jeden
Tag mehrere Korrespondententexte und Ana-
lysen aus der ganzen Welt. Sicherlich behan-
deln wir auch da oft Themen, die nachrichtlich
gerade besonders relevant sind und, ja, es
stimmt: Es gibt Themen und Weltgegenden,
die zu kurz kommen. Wir arbeiten aber dran,
Themen von allen Kontinenten zu behandeln,
die Missstände bei der Grenzschutzbehörde
Frontex in Europa aufzudecken oder über die
Auswirkungen des Klimawandels in Asien
oder den Kampf von Aktivistinnen gegen
Femizide in Lateinamerika zu berichten.
Mathieu von Rohr (Ressort Ausland)

Der SPIEGEL wurde von mir »früher« als sehr
Sozialdemokratie-nahe eingestuft. Wo verorten
Sie sich politisch heute? Und warum?
Lothar Bösch
Sehr geehrter Herr Bösch,
der SPIEGEL geht seit je kritisch mit jenen um,
die in diesem Land die Macht haben. Politi-
sche, aber auch wirtschaftliche Macht. Viel-

leicht rührt Ihr Eindruck daher, dass in der
Anfangszeit des SPIEGEL und der Republik
stets die Unionsparteien regierten und die
SPD in der Opposition war? Oder Sie erin-
nern die Jahre unter Helmut Kohl, der vom
SPIEGEL schwer verspottet wurde und doch
Jahr um Jahr regierte?
Mich stört an der Beschreibung »Sozialde-
mokratie-nahe«, dass das eine parteipolitische
Kategorie ist. Aber der SPIEGEL ist ja keine
Parteizeitung wie der »Vorwärts«. Wahrschein-
lich herrscht in der Redaktion eine linkslibera-
le Grundhaltung vor, das dürfte eine Gene-
rationenfrage sowie eine Frage der Sozialisie-
rung sein. Wir haben aber auch starke konser-
vative Stimmen, die sich durchaus wortgewaltig
in den Redaktionskonferenzen und auf unseren
publi zistischen Kanälen bemerkbar machen.
Bei uns im Foyer an der Hamburger Eri-
cusspitze hängt ein Spruch von Rudolf Aug-
stein an der Wand: »Sagen, was ist.« Klingt
simpel, drei Worte. Aber es ist Verpfl ichtung
und Herausforderung, damit ringen wir jeden
Tag. Im besten Fall beschreiben wir Reali-
täten, ungeachtet der politischen oder wirt-
schaftlichen Macht der Akteure. Augstein
selbst übrigens saß nach der Bundestagswahl
1972 mal für ein paar Monate im Bundestag –
für die FDP. Er hat schnell gemerkt, dass
diese Nähe zur Macht keine gute Idee ist.
Sebastian Fischer (Hauptstadtbüro)

Was genau hat sich beim Faktencheck ver-
ändert, um zu verhindern, dass Momente, die
sich so nicht zugetragen haben, in den Storys
landen, die wir täglich lesen? Kerstin Carlstedt
Liebe Frau Carlstedt,
nachdem der SPIEGEL vor drei Jahren die
Fälschungen von Claas Relotius offengelegt
hat, haben wir unsere journalistischen und
redaktionellen Standards überarbeitet und in
einem Leitfaden festgehalten. Außerdem gilt
nun auch für Reportagen des Reporter-Res-
sorts bei der Verifi kation (also der Überprü-
fung von Fakten durch die Dokumentation)
das Fachprinzip: Vor Relotius wurden diese
Reportagen vornehmlich von ein und dem-
selben Dokumentar verifi ziert; jetzt wird der
Text, je nach Thema, von einer Medizinerin,
einer Soziologin, einem Historiker oder einer
Islamwissenschaftlerin geprüft – und häufi g
genug auch durch ein Team aus Spezialisten.
Ergänzend wählen wir deshalb per Zufalls-
prinzip einen Text aus dem bereits gedruckten
Heft aus und unterziehen ihn einer vertieften
Prüfung durch einen unabhängigen Kollegen.
Basis für diese vertiefte Prüfung sind bei der
Recherche entstandene Notizen, Fotos, Vi-
deos und Audioaufnahmen et cetera, aber wir
kontaktieren, wenn es notwendig ist, auch
Protagonisten oder Fotografen.
Und die wichtigste Änderung: Wir spre-
chen seit Relotius wieder häufi ger über unse-
re Arbeit und unsere Standards, auch über
Probleme und Fehler, die uns unterlaufen –
und zwar systematisch; innerhalb der Doku-
mentation, aber auch gemeinsam mit der Re-
daktion. Cordelia Freiwald (Dokumentation) n

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TITEL75 JAHRE DER SPIEGEL

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