KULTUR
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 105
dann nach Italien verlagert und bin zur Qua-
litätskontrolle zu den Fabriken dort gereist.
Aber ich habe nie aufgegeben, als Autodidak-
tin die Probleme auf meine Weise zu lösen,
mit Produzenten verhandelt, den Mitarbei-
tern das Bügeln gezeigt. Auf diese Weise habe
ich ein Netzwerk aufgebaut, das es vorher gar
nicht gegeben hat. Deshalb habe ich mich nie
zurücklehnen und nur dem Design widmen
können.
SPIEGEL: Sie haben immer ein Standbein in
Hamburg behalten und die internationale
Modeszene in diese erst mal nicht sehr mode-
vernarrte Stadt geholt.
Sander: Hamburg entspricht meiner Mentali-
tät. Ich mag das Understatement der Stadt,
den Pragmatismus, die geistige Unabhängig-
keit. Und ich habe nirgendwo einen Ersatz
für das norddeutsche Licht gefunden, bei dem
man nicht schummeln und kein Stoffmakel
sich verstecken kann. Es war gar nicht so
schwer, die Kunden und Journalisten nach
Hamburg zu holen. Ich habe gesagt, ihr müsst
mir helfen. Die Stadt war eine willkommene
Abwechslung zu Mailand und Paris, und in
mancher Hinsicht gingen meine Kollektionen
eine glaubhafte Symbiose mit Hamburg ein.
Die Stadt ist sicher nicht modevernarrt, aber
sie hat ein starkes Gefühl für Contenance und
ist in dieser Hinsicht sehr britisch. Es heißt ja,
wenn es in London regnet, spannt man in
Hamburg die Regenschirme auf. Gegenüber
den klassischen Modestädten hat mir Ham-
burg auch Gelassenheit gegeben, ein Gefühl
für das wirkliche Leben und seine Erforder-
nisse.
SPIEGEL: Gibt es ein Kleidungsstück, das Sie
als Designerin interessanter und herausfor-
dernder finden als andere?
Sander: Ich finde, dass sogar der Schnitt eines
T-Shirts eine Herausforderung ist, deshalb
horte ich meine T-Shirts aus ägyptischer
Baumwolle. Das weiße Oberhemd, ich sage
lieber Shirt, hat mich genauso beschäftigt.
Natürlich sind Kleidungsstücke auch funktio-
nal, das Shirt zum Beispiel habe ich erst für
die weibliche Figur durchdenken müssen, da-
mit es nicht damenhaft aussieht, sondern
smart und androgyn. Dieselbe intensive
Schnittarbeit war auch bei Damenhosen not-
wendig. Zu Anfang meiner Designtätigkeit
hat man Frauen noch mit Seitenzippern und
steifen Bundfalten ausgestattet. Hosen waren
schwer, unbeweglich, unattraktiv proportio-
niert. Gerade in den letzten Jahren bei meiner
Kollektion +J für die Marke Uniqlo sind mir
auch Mäntel wichtig gewesen. In den Uniqlo-
Stores hat +J damit sichtbare Akzente gesetzt.
Ich habe den Daunenmantel aus dem Extrem-
sport in die Mode geholt und zu einer leich-
teren Daune überarbeitet. Ich habe mit
Mänteln aus interessanten Kaschmirwoll-
mischungen experimentiert, neue Proportio-
nen gefunden und sie mit funktionalen Details
versehen, die auch eine neue Art der Deko-
ration sind.
SPIEGEL: Gibt es ein Kleidungsstück, das Sie
als Privatperson Jil Sander besonders schät-
zen?
Sander: Ich bin eine Mantelfrau.
SPIEGEL: Was an der Mode ist unabhängig
von Trends?
Sander: Ich habe immer versucht, Tendenzen
zu interpretieren und mit meinem Gefühl für
Proportionen, Silhouetten und handwerk-
lichem Wert in Einklang zu bringen. Ich bin
mit einem Entwurf erst zufrieden, wenn er
für mein Gefühl Frische und Energie aus-
strahlt. Aber die Kollektion als Ganze muss
einen Inhalt haben; auch das ist ein Kriterium
für Qualität. Wenn die Elemente miteinander
sprechen, vom Schnitt her, stofflich, farblich,
potenzieren sie sich wechselseitig. Erst auf
dieser Ebene, als umfassender Entwurf, wird
Mode relevant.
SPIEGEL: Was inspiriert Sie?
Sander: Ich habe ästhetisch ein enges Verhält-
nis zur Architektur, ihrer Formgebung und
Struktur. Auch gegenüber der Gegenwarts-
kunst bin ich sehr aufgeschlossen und inte-
ressiere mich für Künstler wie Richard Serra,
James Turrell, Eva Hesse, Agnes Martin, Cy
Twombly und vor allem Robert Ryman.
Kunsterfahrungen haben mir dabei geholfen,
das Verbrauchte in meiner Umwelt wahrzu-
nehmen. Sie haben mein Auge geschult und
mich für leise Detailsprachen und subtile
Form ereignisse sensibilisiert. Ich habe gelernt,
dass man oft nur durch mutige Reduktion aufs
Wesentliche zu einem Ergebnis kommt, das
uns etwas zu sagen hat. Weglassen ist wie ein
Experiment, aus dem etwas Klares und Ein-
faches hervorgehen kann. Zunächst weiß ich
nicht, was ich suche, nur, dass vieles nicht
mehr möglich ist. Ich würde fast von einer
Schule für das Nichts sprechen.
SPIEGEL: Sie sind mit dem Unternehmen Jil
Sander 1989 an die Börse gegangen; in den
Neunzigerjahren gab es Jil-Sander-Boutiquen
auf drei Kontinenten. Hatten Sie mal den
Gedanken, das ganze Unternehmen wird
zu groß?
Sander: Im Gegenteil, wir mussten wachsen
und uns verbünden, auch um den Accessoire-
Boom bedienen zu können, der um die Jahr-
tausendwende erheblich war. Damals war Jil
Sander eine Ausnahme, denn 80 Prozent
unserer Produktion war Mode, bei anderen
großen Marken war das eher umgekehrt. Wir
haben die Menschen wirklich gekleidet, nicht
nur Logotaschen verkauft. Aber die Ausdif-
ferenzierung der Kollektion für alle Größen
und globalen Figurtypen ist unglaublich auf-
wendig gewesen. Darin steckte ein extremer
Service, wir haben die Looks für sehr viele
verschiedene Körper optimal kombinierbar
»Manchmal möchte
ich einen Entwurf
in die Ecke werfen.«
3 | Kampagne für +J-Kollektion 2021 4 | Unternehmerin Sander vor ihrem Haus in Pöseldorf 1980
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Courtesy Aldo Fallai
Jil Sander Archiv
Courtesy David Sims Courtesy Werner Bokelberg
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