Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 11

ließ, ist Lukaschenko weitgehend internatio-
nal isoliert und vollständig von seinem Für-
sprecher Putin abhängig. Dass nun russische
Panzer ohne eindeutige Kennzeichnung aus
seinem Land in die Ukraine einrücken, vom
belarussischen Boden russische Kampfhub-
schrauber abheben, Raketen abgeschossen
werden, macht viele Menschen in Belarus
fassungslos.
Der ukrainische Präsident Selenskyj ver-
hängt das Kriegsrecht und ruft seine Lands-
leute zur Verteidigung ihrer Heimat auf. Alle
Bürger, die bereit seien zu kämpfen, sollten
sich melden, sagte er. Das Innenministerium
teilt mit, man habe 10 000 automatische Ge-
wehre an Bürger verteilt. Russische Jets grei-
fen unterdessen in der gesamte Ukraine Ein-
richtungen des ukrainischen Militärs an, vor
allem Luftabwehreinheiten, Luftwaffenstütz-
punkte, Waffen- und Munitionslager, aber
auch Flugplätze. Moskau habe sich in der
ersten Phase des Kriegs darauf konzentriert,
kritische ukrainische Infrastruktur auszu-
schalten, schreibt der US-Militärexperte Mi-
chael Kofman.
In einer ersten Einschätzung deutscher Si-
cherheitskreise heißt es, das russische Militär
habe an verschiedenen Orten gleichzeitig zu-
geschlagen, um eine mögliche Gegenwehr der
ukrainischen Armee zu unterbinden und zu
verhindern, dass diese sich sammeln könne.
In den ersten Stunden des russischen Groß-
angriffs werden nach Angaben ukrainischer
Behörden mehr als 40 ukrainische Soldaten
und etwa 10 Zivilisten getötet, stündlich wur-
den es mehr.
Luftschutzsirenen ertönen im Laufe dieses
Tages in Kiew, Lwiw und in anderen ukraini-
schen Städten. Die Behörden beklagen mas-
sive Cyberangriffe. Websites einiger ukraini-
scher Banken und des Außen- und Verteidi-
gungsministeriums waren nicht erreichbar.
Im russischen Staatsfernsehen bemüht man
sich in den ersten Stunden, das Bild einer Spe-
zialoperation im Donbass aufrechtzuerhalten.
Von dem umfassenden Angriff auf das Nach-
barland, den Putin angeordnet hatte, bekom-
men die russischen Fernsehzuschauer zu-
nächst nichts mit.
In der Ukraine macht sich derweil Panik
breit. Eine Mutter, die mit ihrem Sohn und
den Großeltern an den Stadtrand von Odes-
sa geflüchtet ist, berichtet unter der Bedin-
gung, dass ihr Name nicht genannt wird, von
heftigen Explosionen. »Wir haben die ganze
Nacht nicht geschlafen«, sagt sie am Telefon.
»Die russischen Truppen versuchen aus Rich-
tung Cherson vorzudringen. Selbst Lutsk und
Lwiw weit nordwestlich von hier werden
bombardiert, wir können uns nirgends mehr
sicher fühlen.«
Odessas Bürgermeister gibt die Anordnung
aus, das Haus nur noch in Notfällen zu ver-
lassen. Es kursieren Videos von den Raketen-
einschlägen in einem Gewerbegebiet. Bei
einem Angriff auf den Militärstützpunkt
Lypezke nordwestlich von Odessa sterben
18 Menschen.

Im Donbass, wo sich seit acht Jahren ukrai-
nische Soldaten und prorussische Rebellen
gegenüberstehen, kommt es zu heftigen
Gefechten. Auch in den Städten Cherson,
Charkiw und Sumy wird erbittert gekämpft.
Am Donnerstagabend besetzt die russische
Armee das Gelände des ehemaligen Atom-
kraftwerks Tschernobyl.
Russische Fallschirmjäger nehmen zu-
nächst den strategisch günstig gelegenen Flug-
hafen Hostomel ein, 25 Kilometer nordwest-
lich von Kiew. Erkennbar sei inzwischen, dass
die russischen Truppen Kiew einkesseln woll-
ten, heißt es am Abend vonseiten deutscher
Dienste. Ob Soldaten dann tatsächlich in die
Stadt einrücken oder ob sie nur Versorgung
und Verbindungen abschneiden wollen, sei
noch offen. Es gebe Hinweise aus bereits ein-
genommenen Gebieten, dass Moskau Schlüs-
selpositionen mit Getreuen besetze – mög-
licherweise sei dies ein Zeichen dafür, dass
man einen Vasallenstaat errichten wolle.
Die Vorstöße der russischen Armee zeich-
nen ein klares Bild: Kiew soll eingenommen,

die Regierung abgesetzt, das Land geteilt,
seine militärische Infrastruktur zerstört wer-
den – und die Armee damit zu einer schnellen
Kapitulation getrieben werden. Die ukraini-
sche Armee ist zwar kampferprobt – der rus-
sischen aber hoffnungslos unterlegen; kaum
ein westlicher Militärexperte glaubt, dass sie
lange durchhalten kann. Und dennoch melden
sich in diesen Tagen zahlreiche Ukrainer frei-
willig, um ihr Land zu verteidigen.
Darja traf ihre Entscheidung um sechs Uhr
früh am Donnerstag, als sie in Kiew die Explo-
sionen hörte. Erst heulte die Sirene vor ihrem
Haus, dann folgte ein Knall. Kiew, die Haupt-
stadt der Ukraine, wurde aus der Luft angegrif-
fen. Die Stadt, in der sich die 34-Jährige gerade
erst ein neues Leben aufgebaut hatte.
Elf Stunden später steht Darja, die bittet,
ihren Nachnamen nicht zu nennen, mit ihrem
Lebensgefährten auf einem Innenhof in Kiew.
Hier, zwischen grauen Plattenbauten, befin-
det sich ein Militärkommissariat, wo sich
Ukrai ner freiwillig zum Kriegsdienst melden
können. Darja und ihr Freund haben am Don-

Russische Kampfhubschrauber bei Kiew, Soldaten auf der Krim: Weitreichende Ziele

Ukrainian Police Department / dpa

Sergei Malgavko / ITAR-TASS / IMAGO

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