Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 13
TITEL UKRAINE-KRIEG
nerstagnachmittag ihre Papiere abgegeben.
Nun warten sie darauf, in den Kampf zu
ziehen.
»Das Geräusch hat mich überzeugt«, sagt
Darja. »Der Donnerschlag vor meinem Fens
ter.« Sie hat ihn schon einmal gehört, vor sie
ben Jahren. Die Anwältin stammt aus Donezk
in der Ostukraine: Dort lebte sie, bis pro
russische Separatisten im Jahr 2014 in der
Gegend ihre »Volksrepublik« ausriefen und
einen Krieg mit der ukrainischen Armee be
gannen. Darja schaffte es damals zu Fuß aus
der Stadt, sie erinnert sich bis heute, wie die
Raketen über sie hinwegflogen. »Ich dachte
nicht, dass ich das noch einmal erleben muss«,
sagt sie.
Sie zog nach Kiew, kaufte eine Dreizim
merwohnung, die sie renovierte: »Ich war fast
fertig, nur die Decke fehlte noch.« Hier rich
tete sie sich mit ihrem Partner ein. Und hier
lebten sie in Frieden – bis heute, Donnerstag
nacht. »Als ich die Einschläge hörte, war mir
klar – ich fliehe nicht noch einmal.« Und
wenn sie schon nicht fliehe, sagt Darja, kämp
fe sie lieber. »Wer tut es denn sonst? Niemand
wird uns verteidigen.«
Darja und ihr Partner Ruslan, der sie zum
Kommissariat begleitet, haben noch nie eine
Waffe in ihren Händen gehalten. Trotzdem
werden sie in den nächsten Tagen oder Stun
den wahrscheinlich an die Front geschickt. So
wie die anderen Männer und einige Frauen,
die sich mit ihnen in diesem Innenhof in Kiew
versammelt haben. Da sind Reservisten in
Flecktarn, die schon 2014 gegen die russischen
Kräfte gekämpft haben und sagen, sie hätten
geahnt, »dass es früher oder später wieder
passieren wird«. Da sind erfahrene Soldaten,
die offenbar den Neulingen erklären, was zu
tun sein wird. Denn da sind auch Studenten,
Künstler, Softwareentwickler. Jungs in Sweat
jacken und Turnschuhen, manche keine
20 Jahre. Viele haben sich, wie Darja, erst am
Morgen entschieden zu kämpfen. »Wir wollen
unser Land verteidigen«, sagt ein 19Jähriger.
Er hat seine Sachen in einer Plastiktüte dabei.
Andere ziehen mit einem Turnbeutel in den
Krieg.
Die Geschichte von Darja und Ruslan er
innert daran: Krieg herrscht in der Ukraine
nicht erst seit dieser Woche. Nach dem demo
kratischen Umsturz auf dem Maidan ließ
Putin die Halbinsel Krim annektieren und
prorussische Separatisten in der Ostukraine
bewaffnen. Mehr als 14 000 Menschen sind
seither gestorben, viele Europäer hatten das
längst vergessen. Erst in den vergangenen
Tagen erlangte der Krieg im Donbass wieder
international Bedeutung: Putin nutzte ihn als
Brandherd, an dem sich ein größeres Feuer
entzünden lässt.
Am Montagabend, dem 21. Februar, wand
te sich Putin zum ersten Mal in dieser Woche
in einer Rede an sein Volk, bevor er am Don
nerstag dann seinen Krieg erklärte. Die Rede
vom Montag wird in die Geschichte eingehen,
weil Putin sich an diesem Abend festlegte. Sie
dauert knapp eine Stunde, Putin holt weit
aus, steigt tief hinab in die Geschichte. Es ist
ein giftiger Angriff auf das Nachbarland –
nicht auf dessen Regierung, nicht auf dessen
Politik, sondern auf das Land selbst.
Am Ende seiner Rede wird Putin die An
erkennung der moskautreuen Separatisten
republiken im Donbass erklären, aber bis er
dahin kommt, wird klar: Dieser Mann will
eigentlich etwas ganz anderes, Wichtigeres
sagen. Er will dem Nachbarstaat Ukraine die
Anerkennung entziehen. Die Ukraine in ihren
jetzigen Grenzen, so sagt er sinngemäß, sei
ein Missverständnis der Weltgeschichte. Sie
habe kein Recht zu existieren. Und er droht,
dieses Gebilde zu zerschlagen.
Die Ukraine, so behauptet Putin, »ist voll
und ganz von Russland gegründet worden –
vom bolschewistischen, kommunistischen
Russland«. Sie sei ein Produkt der Oktober
revolution, von Wladimir Lenin reichlich mit
russischen Territorien bedacht. Die heutige
Ukraine »kann man mit vollem Recht ›Wla
dimirIljitschLeninUkraine‹ nennen. Er ist
ihr Urheber und ihr Architekt«, behauptet
Putin. Wenn man in der Ukraine LeninDenk
mäler stürze und eine »Entkommunisierung«
propagiere, sei das widersinnig.
»Ihr wollte eine ›Entkommunisierung‹?«,
fragt Putin mit stechendem Blick in die Ka
mera. »Nun denn, die könnt ihr haben. Aber
dann dürft ihr nicht auf halbem Weg stehen
bleiben. Wir zeigen euch gern, was eine ech
te Entkommunisierung für die Ukraine be
deutet.« Es ist klar, was er wohl meint: die
Amputation von weiten Teilen des Staats
gebiets. Das russische Fernsehen wird bald
darauf eine Karte der Ukraine zeigen, die in
mehreren Farben zeigt, welche Gebiete der
Ukraine nur »geschenkt« worden seien. Es
bleibt nur ein kleiner Zipfel übrig.
Wäre dies nicht der Herr über eine Atom
macht, man könnte ihn für einen giftigen
Rentner halten, der vor seinen gelangweilten
Enkeln über die Weltgeschichte doziert und
den Faden verliert. »Die Rede hatte keinen
Anfang, kein Ende, kein Thema, keine Ab
sicht«, spottete ein russischer Politologe.
Aber hier droht ein Staatsoberhaupt damit,
den Nachbarstaat zu zerlegen. Hier will
jemand den Zerfall der Sowjetunion nach
30 Jahren neu aufrollen – und er hat die Mi
litärmaschine, das tatsächlich zu versuchen.
Die Geschichte von Putins Krieg begann
im Frühjahr 2021, als erstmals große Truppen
verbände an der ukrainischen Grenze auf
marschierten, angeblich eine Übung, und sie
nahm vom Herbst an konkret Gestalt an: nach
dem Ende eines russischbelarussischen Groß
manövers namens »Sapad 2021«. Truppen
aus Sibirien, die angeblich für dieses Manöver
an Russlands Westgrenze gehalten worden
waren, kehrten damals schon nicht heim. An
dere Truppen wurden aus dem Moskauer
Umland Richtung Ukraine verlegt. Die
»Washington Post« berichtete darüber aus
anonymen USRegierungsquellen, und kurz
darauf reiste CIAChef William Burns nach
Moskau. Es waren Signale an Russland: Wir
sehen, was ihr tut. Was habt ihr vor?
Nur einen Monat später sagten die US
Dienste den Truppenaufbau, der jetzt seinen
Abschluss gefunden hat, mit erstaunlicher
Genauigkeit vorher. Russland plane eine Of
fensive gegen die Ukraine früh im Jahr 2022,
so zitierte die »Washington Post« Anfang
Dezember eine anonyme USQuelle. Um
fang: 100 taktische Bataillonsgruppen, also
kampfbereit zusammengestellte Einheiten,
175 000 Soldaten.
Zwei Wochen später begann Moskau eine
überraschende diplomatische Offensive, die
womöglich nichts weiter als ein Ablenkungs
manöver war: Mitte Dezember überreichte
es schriftliche Vorschläge für ein Abkommen
mit den Vereinigten Staaten und eine Verein
barung mit der Nato. Russland erhob in nahe
zu ultimativer Form Forderungen, auf die sich
Washington und die Nato so nicht einlassen
Flüchtende am Kiewer Bahnhof: Kaum jemand hat den Angriff wirklich für möglich gehalten
Emilio Morenatti / dpa
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