Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
14 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.

TITEL UKRAINE-KRIEG

konnten – unter anderem wollte es eine for-
male Absage an eine Erweiterung der Nato
und eine Rücknahme der Nato-Truppenprä-
senz auf den Stand von 1997. Überraschend
war außerdem, dass Moskau die Forderungen
sogleich veröffentlichte. Es müsse formal ga-
rantiert werden, dass die Ukraine »nie – nie


  • nie« dem Bündnis beitreten werden, sagte
    Vizeaußenminister Sergej Rjabkow nach Ver-
    handlungen in Genf.
    Die Antwort aus Brüssel fiel schroff
    aus – dass Russland sich überhaupt von der
    Nato bedroht fühlen könnte, wurde darin
    schlicht in Abrede gestellt. Der Brief aus
    Washington war dagegen konziliant, mit de-
    taillierten Zugeständnissen in Fragen der
    Rüstungskontrolle und Festigkeit in den Prin-
    zipien. Sollte Wladimir Putin überhaupt
    ernsthaft geglaubt haben, mit seinen Forde-
    rungen durchzukommen, dann waren beide
    Antworten eine Enttäuschung. Nach ihrem
    Eintreffen, am 26. Januar, dürfte irgendwann
    seine Entscheidung für eine Invasion gefallen
    sein. Das würde mit den von da an immer
    dringender klingenden Warnungen aus Wa-
    shington zusammenpassen. Am 11. Februar
    hieß es dort, Russland werde womöglich
    nicht einmal das Ende der Olympischen Spie-
    le in Peking abwarten, bevor es angreife.
    Genau eine Woche später, am 18. Februar,
    sagte US-Präsident Biden in einer Presse-
    konferenz: Er sei überzeugt, Putin habe die
    Entscheidung zur Invasion getroffen. Woher
    er das wisse, wurde Biden gefragt. »Wir
    haben signifikante nachrichtendienstliche
    Fähigkeiten«, beschied er knapp, dankte
    der Presse und verschwand.
    Er behielt recht. Genützt hat es ihm nichts.
    Nun beginnt die Debatte: Hätten die USA
    und die Europäer mehr machen müssen, als
    Putins Taten nur vorherzusehen und mit
    Sanktionen zu drohen? Nur was genau, an-
    gesichts der unerfüllbaren Forderungen?


Theoretisch könnte Biden die russische
Armee mit Cyberangriffen behindern, laut
US-Medien seien ihm entsprechende Optio-
nen vorgelegt worden – doch die Gefahr einer
russischen Gegenreaktion im Cyberraum ist
für die USA und den Westen zu gefährlich.
Fest steht: Die Umrisse der neuen Welt-
ordnung, die sich gerade abzeichnet, 30 Jah-
re nach dem Ende der Sowjetunion, erinnern
fatal an jene des Kalten Kriegs. Selbst die
beiden Hauptakteure sind dieselben, die
sich schon damals gegenüberstanden, von
Berlin bis Kuba und Afghanistan. Nicht zu-
rück in die Zukunft scheint sich der Weltgeist
zu bewegen, sondern vorwärts in die Vergan-
genheit.
Die Wiederkehr der Machtpolitik legt vor
allem Europas Schwäche offen. Putins An-
griffs macht deutlich, dass sich die EU von
alten Gewissheiten verabschieden muss, ob
sie will oder nicht. Er zeigt, dass militärische
Abschreckung nicht schön ist, man ohne sie
aber scheinbar nicht auskommt. Bisher sind
die USA in der westlichen Welt die einzige
Nation, die zu einer solchen Abschreckung
imstande ist. Wie kann der Westen die Rück-
kehr zum Faustrecht verhindern, wenn er sich
der Atommacht Russland nicht militärisch in
den Weg stellen kann und will? Es bleibt ihm
nur das Mittel wirtschaftlicher Sanktionen:
Sie werden Russland massiv treffen; aber of-
fenbar ist ihr Schrecken nicht groß genug, um
Putin aufzuhalten.
In Washington ist es US-Präsident Joe Bi-
den bisher gelungen, die Politik weitgehend
hinter sich zu versammeln. Wie haltbar dieser
Konsens ist, wenn sich die Krise verschärft
oder über Monate hinzieht, ist allerdings of-
fen. Im November stehen die Kongresswahlen
an, und Bidens Vorgänger Donald Trump be-
reitet sich auf die Präsidentschaftswahl 2024
vor. In einem Interview mit zwei konservati-
ven Radiomoderatoren bezeichnete er Putins

Anerkennung der beiden »Volksrepubliken«
als »genial«. Soldaten, wie sie Moskau jetzt
in die östliche Ukraine entsendet, könne
man auch an der Südgrenze der USA gut ge-
brauchen.
Man kann sich den Zynismus vorstellen,
mit dem die Führung im Kreml Äußerungen
wie die von Trump zur Kenntnis nimmt. Das
Gleiche gilt für die Führung in Peking. Vor
genau 50 Jahren war Trumps und Bidens Vor-
gänger Richard Nixon nach China aufgebro-
chen, um einen Keil zwischen die beiden eu-
rasischen Großmächte zu treiben und Peking
auf seine Seite zu ziehen. Das gelang. Auf den
Erfolg dieser Reise gehen nicht zuletzt der
Niedergang der Sowjetunion und die Welt-
ordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs
zurück.
Heute, sagt der frühere Diplomat Winston
Lord, der Nixon damals begleitete, erscheine
es mitunter, als sei Amerika »der Außensei-
ter« in diesem »Dreiecksverhältnis«. Russland
und das massiv erstarkte China stehen einan-
der so nahe wie nie in den vergangenen
50 Jahren. Ihr Einverständnis sei »grenzen-
los«, hatten die Staatschefs Putin und Xi ver-
kündet, als sie sich vor zwei Wochen zur Er-
öffnung der Olympischen Winterspiele in
Peking trafen.
Der neue Russlandkonflikt verschärft die
Folgen dieser Entente für die USA: Sie bindet
amerikanische Ressourcen in einer Weltge-
gend, in der Washington sein Engagement
langfristig reduzieren wollte, um sich auf Chi-
na zu konzentrieren.
Nur was, wenn nach Putin auch Xi terri-
toriale Supermachtgelüste verspürt?
Als am Donnerstag die russischen Panzer
rollten, versicherte der chinesische Außen-
minister Wang Yi seinem Amtskollegen
Lawrow jedenfalls, Peking verstehe Russlands
»legitime Sorgen« um seine Sicherheit. Am
selben Tag weigerte sich Außenamtsspre-
cherin Hua Chunying, den russischen Einfall
in die Ukraine als »Invasion« zu bezeichnen.
Was für Verrenkungen. Offiziell verfolgt
China eine Politik der Nichteinmischung in
die Angelegenheiten anderer Staaten. Damit
ist kein Angriffskrieg, auch keine Anerken-
nung separatistischer »Volksrepubliken« auf
dem Territorium eines souveränen Staats in
Einklang zu bringen – zumal China nichts
mehr erzürnt als ausländische Unterstützung
für die vermeintlichen Separatisten, die es in
Taiwan verortet. Und trotzdem macht Peking
nun eine Ausnahme für Putin.
Chinas Haltung unterscheidet sich eklatant
von seiner bemüht neutralen Position 2014,
als Russland sich die Krim einverleibte. Da-
mals enthielt sich Pekings Vertreter bei der
entscheidenden Abstimmung im Uno-Sicher-
heitsrat der Stimme, genauso unterließ die
Volksrepublik Schuldzuweisungen an den
Westen. Seither haben sich Chinas Beziehun-
gen zu den USA im selben Maße verschlech-
tert, wie sie sich zu Russland verbessert haben.
Die Frage, die derzeit wohl am schwersten
Ukrainische Militärfahrzeuge in Kiewer Innenstadt: 10 000 automatische Gewehre verteilt zu beantworten ist, betrifft Russland selbst:

Daniel Leal / AFP

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