Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
16 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.

Wie wird Putins Krieg sein Land verändern


  • und was erzählt seine Wandlung über ihn
    selbst?
    Viele Russen können nicht glauben, dass
    Putin so weit gegangen ist. »Für alle, die ihr
    Gewissen noch nicht verloren haben, ist es
    an der Zeit, auf die Straße zu gehen und gegen
    diesen Krieg zu protestieren«, erklärte der
    ukrainische Präsident Selenskyj in einer An-
    sprache, auf Russisch an die Menschen in
    Russland gewandt.
    Die politische Elite des Landes und Ver-
    treter der Wirtschaft schweigen allerdings
    bisher – kaum ein Wort der Kritik ist zu ver-
    nehmen. »Heute ist der Tag, an dem Wladi-
    mir Putin auf die dunkle Seite der Geschich-
    te gewechselt ist. Es ist der Anfang vom Ende
    seines Regimes. Es kann sich jetzt nur noch
    auf Bajonette stützen«, so urteilt die Mos-
    kauer Politologin Tatjana Stanowaja über
    Putins Schritt. Er habe für seinen Krieg keine
    Unterstützung der Eliten, schreibt sie auf Te-
    legram: »Das bedeutet nicht, dass es irgend-
    eine Art von Opposition geben wird: Natür-
    lich wird sich jetzt niemand aus dem inneren
    Kreis gegen Putin stellen, aber die Vorstel-
    lung, dass der Chef verrückt geworden ist,
    beschränkt sich nicht mehr auf die liberale
    Opposition.«
    Es sind Künstler, Sänger, Regisseure, Jour-
    nalisten und Oppositionelle, die sich zu Wort
    melden, auf Instagram und in Aufrufen for-
    dern, diesen Krieg zu beenden, oft ohne Pu-
    tin dabei beim Namen zu nennen.
    Auf der Straße in Moskau unterstützt kei-
    ner der vom SPIEGEL Angesprochenen Putins
    Offensive, »schrecklich«, hört man, »einen
    Krieg brauchen wir nicht«. »All das ist be-
    ängstigend, Krieg kennt keine Gewinner«,
    sagt Swetlana, 45, Mitarbeiterin eines Schön-
    heitssalons. Manch einer glaubt nun, dass
    Putin zu weit gegangen ist: »Ich glaube, das
    ist der Anfang seines Endes«, sagt der Mos-


kauer Dmitrij, 32 Jahre. »Zum ersten Mal
schäme ich mich dafür, dass ich Russe bin«,
sagt Pawel Kramorenko, 27. Wirtschaftlich
sorgt ihn der Absturz des Rubelkurses, Kra-
morenko führt ein Unternehmen in der Be-
kleidungsbranche, muss Stoffe und Garne
einführen. »Buchstäblich über Nacht sind
unsere Produktionskosten um 30 Prozent ge-
stiegen.« Es sei schwer vorstellbar, was als
Nächstes passieren werde.
Mehr als 1000 Menschen trauten sich am
Donnerstagabend in Sankt Petersburg, Mos-
kau und Nowosibirsk sogar zu Friedenspro-
testen auf die Straßen, trotz der massiven
Repressionen, die inzwischen in Russland
herrschen. Sie riefen »kein Krieg«, Sicher-
heitskräfte waren überall präsent, es gab allein
in Moskau 900 Festnahmen.
Als Putin die Halbinsel Krim besetzte, war
das noch anders. Damals war die große Mehr-
heit der Russen begeistert von dem Vor-
marsch, er hat Putins Zustimmungswerte für
Jahre in die Höhe getrieben. Vom »Krim-
Frühling« war 2014 die Rede. Einen »Ukrai-
ne-Frühling« wird es kaum geben.
Die Krim-Annexion war eine Antwort auf
die Maidan-Revolution in Kiew und verlief
fast ohne Tote. Die Halbinsel verbanden vie-
le Russen mit sonnigen Ferien am Meer, ihre
Hafenstadt Sewastopol war über Jahrzehnte
hinweg Sitz der russischen Schwarzmeerflot-
te, auch wenn sie in der Ukraine lag.
Die Ukraine ist vielen Russen emotional
nah, es gibt vielfältige familiäre Bande zwi-
schen den beiden Ländern. Ein Krieg gegen
die Ukraine – das konnten sich viele Russen
bisher nicht vorstellen, und ihr Präsident hat
ihnen noch nicht einmal einen nachvollzieh-
baren Grund geliefert. Dennoch werden sie
für diesen Krieg einen hohen Preis zu zahlen
haben. In Moskau gab es am Donnerstag an
vielen Bankautomaten keine Dollar- und
Euroscheine mehr, viele Menschen hatten be-

reits am Morgen schnell Geld abgehoben,
bevor der Rubel weiter an Wert verlor. Der
russische Leitindex wurde vorübergehend
ausgesetzt und brach kurz darauf um fast die
Hälfte ein.
Dabei fangen die Sanktionen gerade erst
an. Und das wird vor allem für die Elite
schmerzhaft. Der Oppositionspolitiker Alexej
Nawalny schrieb aus seiner Haft, so wie
jetzt Putin die Ukraine angreife, habe das
Politbüro einst entschieden, Truppen nach
Afghanistan zu schicken. »Dank Putin werden
Hunderte ukrainische und russische Bürger
sterben, und in Zukunft können es Zehntau-
sende sein. Ja, er wird die Ukraine an ihrer
Entwicklung hindern und sie in einen Sumpf
ziehen, aber Russland wird denselben Preis
zahlen.«
In Kiew heulen Donnerstag Nacht nur ab
und zu einzelne Sirenen in der Stadt, hört
man einen Knall oder den Schall eines Flug-
zeugs, das den Himmel überfliegt. Die meis-
ten Läden und Schulen sind geschlossen, nur
einige Supermärkte haben noch geöffnet. Von
hier eilen die Menschen schnell nach Hause,
kiloweise Vorräte auf dem Arm, die sie nun
auf die Schnelle gekauft haben.
In der Metrostation Olimpijska, mitten in
der Stadt, in der Nähe des Olympiastadions
kauern Dutzende Menschen: Frauen, Kinder,
Rentnerinnen. Ein Vater, der einen Kinder-
wagen schaukelt. Sie haben sich hierher ge-
rettet, nachdem Luftalarm ausgelöst worden
war, nun warten sie – aber auch sie wissen
nicht, worauf. »Das ist das Schlimmste«, sagt
Marija Lasarjewa. »Selbst Schmerzen kann
man besser ertragen, wenn man auf sie vor-
bereitet ist. Aber wir wissen nicht, wie stark
der Schmerz sein wird.«
Lasarjewa, eine Psychologin, hat sich mit
ihren beiden Nachbarinnen zusammengetan,
gemeinsam haben sie eine Isomatte ausgelegt
und warten. Es gibt keine Stühle oder Liegen
in der Metrostation, nur den Steinboden –
und die Hoffnung, hier, unter der Erde, sicher
zu sein. Die Frauen haben einen Welpen und
zwei Katzen mitgebracht, sie wollten sie nicht
alleinlassen. Aber für wie lange kann man
eine Katze in einer Tasche in der Metro hal-
ten? »Ich hoffe, wir können in ein paar Stun-
den wieder in unsere Wohnung«, sagt Lasar-
jewa. Dann mag der Luftalarm vorbei sein.
Der Krieg ist es sicher nicht.
Allen, die in der Metrostation Olimpijska
Schutz gesucht haben, ist der Schock anzu-
merken. »Warum tut Putin das?«, fragt eine
75-Jährige, die erschöpft an einer Säule lehnt.
»Was haben wir ihm denn getan?«
Als es dunkel wird, bleiben auch viele
Fenster in der Stadt dunkel, die Bewohner
sind geflohen. Nur die Reklametafeln an den
Rändern der Boulevards erhellen die Nacht.
Sie zeigen ein Bild: die Flagge der Ukraine.

Präsident Selenskyj (M.) bei Krisensitzung: Auf Russisch an die Russen appelliert

Alexander Chernyshev, Christian Esch,
Georg Fahrion, Matthias Gebauer,
Christina Hebel, Katja Lutska, Walter Mayr,
Maximilian Popp, Mathieu von Rohr,
Alexandra Rojkov, Özlem Topçu, Bernhard Zand n

Ukrainian Presidential Press Office / AP

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