Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 17

UKRAINE-KRIEG TITEL

F


ür Oberstleutnant Daniel Andrä hat sich
die Welt in den letzten Tagen dramatisch
verändert. Seine Mission ist dieselbe wie
vorher, sein Auftrag ist geblieben, aber die
Bedeutung hat sich schlagartig erhöht und
damit die Aufmerksamkeit. Andrä ist nun
mittendrin in dieser Zeitenwende.
»Natürlich stehen wir jetzt viel stärker im
Fokus«, sagt er in einem Telefonat am Mitt-
wochmorgen. »Plötzlich ist es von breiterem
öffentlichen Interesse, wie die Nato ihre Ost-
flanke sichert.«
Keine 24 Stunden später wird Russland in
der Ukraine einmarschieren.
Andrä, 43, hat vor zwei Wochen das Kom-
mando über den multinationalen Gefechts-
verband der Nato in Litauen übernommen,

insgesamt etwa 1600 Männer und Frauen,
davon rund 1000 aus Deutschland. Die Trup-
pe kommt auf 9 Kampfpanzer und 25 Schüt-
zenpanzer, das ist nichts im Vergleich zu Russ-
lands Kräften, aber genug, um Präsenz zu
demonstrieren. »Enhanced Forward Presence«
heißt die Mission denn auch, sie läuft seit Jah-
ren, die Nato schickt dafür rotierend Truppen
in die baltischen Staaten.
Die Bundeswehr ist für Litauen zuständig,
sie soll dort gemeinsam mit der litauischen
Armee ihren Beitrag zur Abschreckung leisten
und, falls Russland im Baltikum angreifen
sollte, die Attacke zumindest verzögern. Bis
vor Kurzem hätte man von der Mission in
Deutschland kaum Notiz genommen, doch
das hat sich geändert. Erst diese Woche war

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht
(SPD) zu Besuch bei der Truppe.
»Wir sind dafür ausgebildet und ausgerüstet,
hier im Ernstfall unseren Beitrag zur Verteidi-
gung des Landes zu leisten«, sagt Andrä, der
mit seinen Soldatinnen und Soldaten einer
litauischen Brigade unterstellt ist. »Wir sind das
schärfste Schwert, das diese Brigade aufbieten
kann, und wir spüren hier in jedem Gespräch,
wie dankbar man für unseren Beitrag ist.«
Estland, Lettland und Litauen sind Nato-
Mitglieder, ein Angriff auf sie würde den
Bündnisfall auslösen, deshalb galt ein solches
Szenario eigentlich als ausgeschlossen – doch
auch mit einem Angriff auf die Ukraine hatten
noch im vergangenen Jahr die wenigsten ge-
rechnet. Deutschland jedenfalls hat gerade

Da können Moskaus Generäle


nur lachen


SICHERHEIT Der russische Angriff auf die Ukraine legt die Irrtümer der deutschen Russlandpolitik
offen. Zu lange gab es Verständnis statt Härte, vor allem die Bundeswehr steht
nach Jahrzehnten der Abrüstung fatal schwach da. Nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

Verteidigungsministerin Lambrecht, Bundeswehrsoldaten bei Übung in Munster: In der Truppe hat man verlernt, auch nur mittelgroß zu denken

Sean Gallup / Getty Images

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