Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 19

das sei offensichtlich eine »Einbahn-
straße« gewesen, sagt Schäfer. »Es ist
eine Zeitenwende, womöglich eine
ähnliche wie nach dem 11. September.«
Und Fraktionschef Mützenich? Er
möchte zwar die bisherige Linie nicht
für falsch erklären, hält die Politik
der Entspannung nach wie vor für
richtig – doch auch er klingt jetzt an-
ders als noch Tage zuvor. Er nennt
Putin einen »von der Geschichte be-
sessenen Präsidenten«, der »zuneh-
mend beratungsresistent« sei und
»geradezu autistisch« agiere.
Auch Olaf Scholz steht in der Tra-
dition der russlandfreundlichen SPD,
hinzu kommt, dass er sich selbst für
einen begnadeten Verhandler hält.
Als er Mitte Februar nach Moskau
reiste, hielt er eine diplomatische Lö-
sung zumindest für möglich.
Und sah es nicht zunächst sogar
danach aus? Nach dem Gespräch mit
Scholz sagte Putin: »Wir sind auch
bereit, den Weg der Verhandlungen
zu gehen.« Nach der gemeinsamen
Pressekonferenz lud er den Bundes-
kanzler zu einem Glas Champagner
ein, ohne Berater, ohne Übersetzer,
Putin spricht sehr gut Deutsch. Es
fühlte sich, bei aller gebotenen Skep-
sis, wohl wie ein leises Angebot an.
Danach deutete Scholz in einem
Gespräch mit den Botschafterinnen
und Botschaftern der EU-Partner so-
gar an, dass man Russland entgegen-
kommen könne. Er habe Putin gesagt,
dass die Nato zwar grundsätzlich of-
fen für jedes europäische Land sei –
doch was die Ukraine angehe, habe
er ihm zugesichert: »Es wird nicht
passieren.« Die Frage stehe »einfach
nicht auf der Tagesordnung«. Dafür
werde er, Scholz, »nicht in den Krieg
ziehen«. Dafür zog ein paar Tage spä-
ter Putin in den Krieg.
Im Kanzleramt sieht man nun,
dass die Freundlichkeit Bluff war, eine
perfide Inszenierung. Putin spielte,
Scholz ließ mit sich spielen.
Es war in Wahrheit wohl schon zu
spät, als der Kanzler in Moskau an-
kam. Vielleicht, heißt es unter Diplo-
maten, habe man unterschätzt, wie
weit sich der russische Präsident vom
Westen wegbewegt habe. Nun zeigt
sich, dass all die Gespräche der ver-
gangenen Jahre und Jahrzehnte
nichts gebracht haben, all die Tele-
fonate, die Merkel mit Putin führte,
der ständige Austausch der Berater
in Kanzleramt und Auswärtigem Amt
mit ihren russischen Kollegen. Der
Gesprächskanal zwischen Kanzler-
amt und Kreml ist nun weitgehend
tot. Was soll man auch bereden, wenn
russische Panzer durch die Ukraine
rasseln?

Die entscheidenden Fehler wurden
lange vor Scholz’ Besuch in Moskau
gemacht. Der symbolträchtigste trägt
den Namen Nord Stream 2.
Um die Gaspipeline hatte sich hier-
zulande in den vergangenen Jahren
ein politisches Ritual entwickelt.
Nach jeder russischen Provokation,
jedem innen- oder außenpolitischen
Übergriff kam die Forderung, die
Pipeline durch die Ostsee endlich zu
stoppen – doch nichts passierte. Die
Regierung hielt an dem Projekt fest,
ob unter Merkel oder Scholz, bis zu
dieser Woche. Da war endlich Schluss.
Das Zertifizierungsverfahren für
die Pipeline werde ausgesetzt, ver-
kündete Scholz am Dienstag, einen
Tag nachdem Putin erste Truppen in
den Donbass geschickt hatte. Es wirk-
te wie eine arg späte, aber immerhin
halbwegs entschlossene Reaktion des
Kanzlers – doch in Wahrheit ging sie
auf Vizekanzler Robert Habeck von
den Grünen zurück.
Als Habeck Ende des vergangenen
Jahres ins Wirtschaftsministerium
eingezogen war, galten dort, was
Nord Stream 2 anging, seit Jahren
zwei Dogmen: Wenn die Pipeline
nicht in Betrieb gehe, sei die »Ver-
sorgungssicherheit« gefährdet. Das
Wort wirkte stets wie eine rhetorische
Allzweckwaffe, es ließ die Bürger an
unbeheizte Wohnungen und kalte
Herdplatten denken. Dogma zwei:
Werde Nord Stream 2 gestoppt, müs-
se Deutschland eine hohe Entschädi-
gung zahlen.
Habeck ließ seine Beamten beide
Dogmen hinterfragen, Papiere durch-
forsten, Gutachten lesen. Ergebnis:
Mengenmäßig braucht es die Leitung
nicht, um Deutschland mit Erdgas zu
versorgen. Die bestehenden Verbin-
dungen, insbesondere Nord Stream 1,
reichen dafür aus. Und wenn das Zer-
tifizierungsverfahren scheitert, so die
Einschätzung des Ministeriums, ist
keine Entschädigung zu zahlen. Ge-
nau diesen Kniff wandte Habeck an


  • er setzte das Verfahren aus, genauer:
    Er zog die notwendige Bescheinigung
    zur Versorgungssicherheit zurück.
    Nord Stream 2 liegt damit auf Eis.
    Die endgültige Entscheidung traf
    Habeck in der Nacht von Montag auf
    Dienstag. Um acht Uhr am Dienstag-
    morgen telefonierte er mit Scholz, der
    Kanzler war einverstanden – und ver-
    kündete die Entscheidung vier Stun-
    den später öffentlich: Er habe Habeck
    gebeten, die Zertifizierung auszuset-
    zen. Plötzlich klang es so, als hätte
    Scholz die Idee gehabt.
    Ist das Projekt nun endgültig tot?
    Bei den Partnern in der Europäischen
    Union überwiegt noch Skepsis – auch


wenn der erste Schritt dort gut ange-
kommen ist. »Das war ein wichtiges
Zeichen«, sagt ein Brüsseler Beamter.
»Aber das Projekt ist ja nur ausgesetzt,
nicht abgesagt.« Woran man mit
Deutschland sei, werde sich erst zeigen.
Putins Attacke hat die Koordina-
ten der deutschen Politik ruckartig
verschoben, plötzlich passieren Din-
ge, die jahrelang nicht möglich waren.
Das wird einschneidende Folgen ha-
ben, womöglich für Jahre, für Jahr-
zehnte. Die deutsche Wirtschaft ist
eng mit der russischen verflochten,
ein Wirtschaftskrieg gegen Russland
wird teuer, die Bürgerinnen und Bür-
ger werden das spüren.
Was die Energie angeht, sieht die
EU-Kommission auch mittelfristig
keine Anzeichen von Entspannung


  • im Gegenteil. Inzwischen herrsche
    eine »wachsende Gaskrise«, heißt es
    in einem vertraulichen Entwurf einer
    Mitteilung der Kommission. Die
    Energiepreise würden »noch bis min-
    destens 2023 volatil« und überdurch-
    schnittlich hoch bleiben.
    Viele Deutsche sehen eine Kon-
    frontation mit der Macht im Osten
    ohnehin skeptisch. Geht es an den
    eigenen Geldbeutel, könnte der Rück-
    halt rasch schwinden. Auch mit mili-
    tärischer Aufrüstung konnte die
    Mehrheit der Bundesbürger in der
    Vergangenheit nichts anfangen. Das
    könnte sich jetzt ändern.
    Im Verteidigungsministerium wer-
    den dieser Tage haufenweise Über-
    stunden gemacht, in der Bundeswehr
    ist Inventur angesagt. Der General-
    inspekteur hat die Planer in den Kom-
    mandostäben damit beauftragt, sie
    sollen feststellen, welche Truppen-
    teile der Nato kurzfristig als Verstär-
    kung angeboten werden könnten. Es
    geht darum, die Ostflanke des Bünd-
    nisgebiets zu stärken, inzwischen lie-
    gen erste Ergebnisse vor.
    Das Heer meldete, man könne um-
    gehend eine Infanteriekompanie
    durchhaltefähig anbieten, also länger
    als nur ein paar Monate – das wären
    rund 150 Soldaten mit einem guten
    Dutzend »Boxer«-Radpanzer. Etwas
    später könnte eine zweite Kompanie
    hinzukommen. Eine Idee ist, sich mit
    diesem Minipaket den Franzosen an-
    zuschließen, die in Rumänien einen
    Nato-Gefechtsverband aufstellen
    wollen.
    Bereits am Donnerstag schickte die
    Luftwaffe drei weitere »Eurofighter«
    zur Luftraumüberwachung nach Ru-
    mänien. Dorthin oder nach Litauen
    könnte die Bundeswehr mög-
    licherweise auch das »Patriot«-Luft-
    abwehrsystem entsenden. Hinzu
    kommt ein Flottendienstboot, das die


* gerundet
SQuelle: Military Balance

Schrumpf-
Armee

Deutsche
Streitkräfte*, Auswahl
aktuelle Anzahl
seit  reduziert

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Soldaten

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Einheiten


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Schiffe


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