Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
24 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

TITEL UKRAINE-KRIEG

M


ittwoch in Berlin-Kreuzberg. Es ist
kurz nach acht, die Bar Space Me-
duza füllt sich langsam. Heute ist
Filmabend, passend zur angespannten Welt-
lage stehen ukrainische Kurzfilme auf dem
Programm. Die Bar ist ein beliebter Treff-
punkt der ukrainischen Gemeinde in der
Hauptstadt. Und noch greift Russland die
Heimat nicht auf breiter Front an.
Hinter dem Tresen steht Wladyslawa Wo-
robjowa. Die 18-Jährige lebt mit ihrem Vater
und ihrer Schwester in Berlin, sie kam vor vier
Jahren aus der Stadt Charkiw nach Deutsch-
land. Der Großteil ihrer Familie lebt noch in
der Ukraine, und die Panik dort wachse stünd-
lich, sagt sie. »Meine Mutter hat den Koffer
für den Notfall schon gepackt.« Auch Ver-
wandte und Bekannte seien vorbereitet: »Sie
haben genug Benzin im Auto und Geld bei-
seitegelegt, um schnell reagieren zu können.«
Gute acht Stunden später war der Notfall
da. Am frühen Donnerstagmorgen meldete
der ukrainische Innenminister den Einschlag
von Raketen und Artilleriegranaten. Der
Krieg ist zurück in Europa, auf den Ausfall-
straßen der Hauptstadt Kiew stauten sich im
Morgengrauen die Autos der Menschen, die
versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Und
es werden sich wohl noch viel mehr auf die
Flucht begeben, auch nach Deutschland. Die
Frage ist nur: wie viele?

Die EU-Kommission schätzt, es könnten
eine Million oder mehr Flüchtlinge aus der
Ukraine kommen. Amerikanische Regie-
rungsbeamte halten bis zu fünf Millionen für
denkbar. Die US-Botschafterin bei den Ver-
einten Nationen, Linda Thomas-Greenfield,
wird deutlich: »Wenn Russland diesen Weg
weitergeht, könnte es nach unseren Schätzun-
gen eine neue Flüchtlingskrise auslösen, eine
der größten, mit denen die Welt heute kon-
frontiert ist.«
In Deutschland weckt das Erinnerungen
an die Jahre 2015 und 2016, als sich vor allem
Syrer, Afghanen und Iraker auf den Weg nach
Europa machten. Sie brachten die Asylsyste-
me an ihre Grenzen und rechten Populisten
Aufwind.
Nun stellt sich Deutschland erneut auf
steigende Zahlen von Schutzsuchenden ein.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD)
trommelte schon am Donnerstag ihre Län-
derkollegen zusammen. Faeser ging in der
Runde zwar davon aus, dass ein Großteil der
Flüchtlinge aus der Ukraine zunächst in
Polen oder anderen Nachbarstaaten wie Ru-
mänien, Ungarn oder der Slowakei unter-
kommen werde. Aber wie viele davon letzt-
endlich in Deutschland landen würden, kön-
ne man wegen der dynamischen Situation in
der Ukraine nicht sagen. Die Bundesländer
richten sich jetzt schon darauf ein, ihre Ka-

pazitäten in den Erstaufnahmen aufzu-
stocken.
Denn natürlich haben die Menschen allen
Grund, sich zu fürchten. Die Ukrainerin Ole-
na K., 36, Wissenschaftlerin, lebt in Berlin
und möchte ihre 66-jährige Mutter Galyna in
Sicherheit wissen. Die Mutter lebt seit Jahren
in Kiew. Seit vor acht Jahren prorussische
Separatisten Donezk und Luhansk besetzten,
war sie nicht mehr in ihrer eigentlichen Hei-
mat im Donbass. Sie konnte nicht mehr die
Gräber ihrer Eltern besuchen, nicht mehr ihre
Verwandten. Eine Reise wäre zu gefährlich
gewesen. Nun fürchtet Olena K., dass ihre
Mutter ein zweites Mal Abschied nehmen
muss – diesmal von der Ukraine.
Noch vor Putins Angriff ist die ältere Dame
in Berlin gelandet, im Gepäck Fotoalben mit
Schwarz-Weiß-Bildern der Familie und einige
Ruschnyky, aufwendig bestickte traditionelle
ukrainische Tücher. Inzwischen ist sie weiter-
gereist zu ihrem Sohn in die USA.
Olena K. ist in ständigem Kontakt mit
ihren Bekannten in der Ukraine. »Meine
Freundinnen mit kleinen Kindern versuchen,
aus Kiew rauszukommen, in die Westukraine.
Mein Bruder aber sagt, er bleibt, wird alles
tun, um die Ukraine und Kiew zu schützen.
Er will sich als Freiwilliger zum zivilen Schutz
melden. Mein Gefühl ist, dass die Haltung zu
bleiben sehr ausgeprägt ist – solange es ir-
gendwie geht.« Es überwiege die Hoffnung,
dass das Schlimmste vielleicht bald vorbei sei.
Und wenn nicht? »Alle wollen auch dann
so schnell wie möglich zurück. Keiner sagt,
er will dauerhaft weg, nach Westeuropa – alle
haben in der Ukraine ihr Leben.«
Mehrere Hundert Menschen protestieren
am Donnerstagmorgen vor dem Branden-
burger Tor in Berlin mit Fahnen, Plakaten
und Sprechgesängen gegen den russischen
Angriffskrieg. Die Gemeinde der Exilukrainer
in Deutschland ist schwer getroffen. Men-
schen weinen und umarmen sich, fast alle
haben Verwandte und Freunde in der Ukrai-
ne. »Meine Eltern sind heute Morgen in Char-
kiw von den Angriffen aufgeweckt worden«,
klagt der 27-jährige Jan, »die Lage ist einfach
nur gruselig.« Er möchte, dass seine Eltern zu
ihm nach Deutschland kommen. Nahezu alle
seine Bekannten hätten Koffer gepackt und
wichtige Dokumente bereitgelegt, um jeder-
zeit fliehen zu können. Doch die Fluchtwege
seien verstopft. Die Straßen seien komplett
überfüllt, und an den Grenzen gebe es bereits
kilometerlange Staus. Andere wollten ihr Zu-
hause aber auch nicht verlassen. Einige fühl-
ten sich zu alt, um noch einmal neu anzufan-
gen, sagen Demonstranten. Zudem sei es auf
den Straßen in der Ukraine zurzeit noch ge-
fährlicher als zu Hause. Viele würden sich
deshalb zunächst in ländliche Regionen ret-
ten, erst einmal.
Im Land Berlin kümmert sich ein Krisen-
stab um die Lage, Schätzungen zufolge könn-
ten mehrere 10 000 Menschen in kurzer Zeit
aus der Ukraine in der Hauptstadt ankom-
men, weil dort ohnehin viele Ukrainer leben.

Der Weg nach Westen


MIGRATION Die Europäische Union rechnet mit vielen Flüchtlingen
aus der Ukraine. Die Bundesländer bereiten sich schon auf die Aufnahme
der Menschen vor.

Schutzsuchende in Kiew: Natürlich haben die Menschen allen Grund, sich zu fürchten«

Emilio Morenatti / AP

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