Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 25

Katrin Elger, Helge Hoffmeister, Peter Maxwill,
Anna Reimann, Marta Solarz,
Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter n

Das würde die bisherigen Aufnahmekapazi-
täten Berlins überlasten. Das Land müsste
deshalb wie 2015 und 2016 Notunterkünfte
etwa auf dem Gelände einer Spandauer Ka-
serne einrichten. Auch im kleinen Bremen
hat man Respekt vor dem, was da kommen
kann. Von den 5400 Erstaufnahmeplätzen in
der Stadt seien nur rund zehn Prozent frei,
sagt ein Sprecher der Sozialsenatorin. Immer-
hin sei Corona auf dem Rückzug, das bedeu-
te, dass »ein gewisser Spielraum« bestehe,
die Einrichtungen stärker zu belegen als wäh-
rend der Pandemie.
In Hessen will man die Zahl der Plätze für
Schutzsuchende anpassen. In Nordrhein-
Westfalen sind 3500 Plätze in Erstaufnahmen
frei. »Generell gilt, dass NRW sich immer
solidarisch gegenüber Menschen in Not
zeigt«, so NRW-Flüchtlingsminister Joachim
Stamp.
Auch Sachsen, das an Polen grenzt und
somit auf der möglichen Flüchtlingsroute
liegt, sieht sich gewappnet. Die Erstaufnah-
men im Land sind derzeit nur zu 50 Prozent
ausgelastet. Zudem könnten seit der Flücht-
lingskrise leer stehende Gebäude relativ
schnell reaktiviert und in einem letzten Schritt
auch Zelte und Container aufgebaut werden.
Bis zu 2000 zusätzliche Plätze könne man so
zügig schaffen.
Polen bietet bereits Hilfe an. Sein Land
könne viele Menschen kurzfristig unterbrin-
gen, so Innenminister Mariusz Kamiński: »In

diesen schwierigen Tagen müssen wir auf al-
len Ebenen Solidarität zeigen.« Die Menschen
seien auf der Flucht, um ihr Leben zu ver-
teidigen. »Wir werden alles tun, um sicherzu-
stellen, dass jeder, der Hilfe braucht, diese bei
uns findet.« Polen hat schon neun Aufnahme-
zentren im Südosten des Landes eröffnet. Es
soll dort Essen geben, medizinische Versor-
gung, Transporte zu anderen Anlaufstellen.
Bereits seit Donnerstag, so das Innenminis-
terium, steige die Zahl der Menschen, die
kommen. Man könne an den Grenzübergän-
gen zur Ukraine 50 000 Menschen pro Tag
durchlassen.
Auch die Bundesregierung hat signali-
siert, unbürokratisch helfen zu wollen. Nach
Deutschland einreisen können Ukrainer be-
reits jetzt ohne Visum. Aber statt dann ein
Asylverfahren durchlaufen zu müssen, könn-
te den Flüchtlingen ein Aufenthalt zum »vo-
rübergehenden Schutz« gewährt werden, hieß
es laut Teilnehmern der Schalte mit den Län-
derinnenministern am Donnerstag.
Der entsprechende Paragraf wurde als Lek-
tion aus den Balkankriegen der Neunziger-
jahre ins Aufenthaltsgesetz aufgenommen,
bisher allerdings noch nie angewendet. »Die-
se Regelung hätte den Vorteil, dass ukraini-
schen Geflüchteten schnell und unkompliziert
ein vorübergehender Schutztitel ausgestellt
werden könnte«, sagt der Konstanzer Rechts-
experte Daniel Thym. Im Alleingang könne
Deutschland den besagten Paragrafen aller-

dings »nicht aktivieren«, sagt Thym. »Dafür
wäre ein Beschluss der EU notwendig. Das
ermöglicht auch eine Verständigung der EU-
Mitgliedstaaten darüber, welches Land wie
viele Ukrainer aufnimmt.«
Noch sind alle Szenarien vage. Jana Lysen-
ko kommt ursprünglich aus Donezk und arbei-
tet jetzt an der Forschungsstelle Osteuropa
der Universität Bremen. Seit 2021 spricht sie
regelmäßig mit Menschen aus dem Donbass


  • und geht nach all den Interviews davon aus,
    dass zumindest aus der Ostukraine nicht mit
    vielen Flüchtlingen zu rechnen ist. »Die Men-
    schen in den ›Volksrepubliken‹ sind gegenüber
    den realen Gefahren abgestumpft, durch Ge-
    wöhnung etwa an Beschuss«, sagt sie.
    Und doch treibt die Debatte in Deutsch-
    land bereits merkwürdige Blüten. So musste
    sich die deutsch-ukrainische Politikerin Ma-
    rina Weisband auf Twitter rechtfertigen, wa-
    rum sie ihre Familie nicht nach Deutschland
    geholt habe. Viele der rund 40 Millionen
    Menschen in der Ukraine könnten ihre Hei-
    mat gar nicht verlassen, »selbst wenn sie es
    wollten«, schreibt die Grüne. Ihr Tweet endet
    mit einer eingehenden Bitte: »Bei allem, was
    euch heilig ist«, schreibt sie, »haltet euch heu-
    te mal einen Tag damit zurück, Menschen
    Vorwürfe zu machen, die sich um ihre Lieben
    sorgen.«


Flucht-Stau in der ukrainischen Hauptstadt: »Meine Mutter hat den Koffer für den Notfall schon gepackt«

Emilio Morenatti / AP

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