Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
54 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

REPORTER UKRAINE-KRIEG

habe auch im Osten gekämpft. Sie hätten sich
kennengelernt, als Sascha in seinem Wohn­
block war und fragte, ob er vor den Fahr­
stühlen eine Spendenbox aufstellen könne,
für die Kinder in den besetzten Ostgebie­
ten.  »Kinder­Feldpost« steht auf der Box.
Sascha, sagt Wjatscheslaw, habe interessante
Ideen.
Als er zum Treffpunkt kommt, einem klei­
nen Lokal in der Nähe einer Eisbahn, ist es
schon dunkel. Drinnen, über der Theke, hängt
das Bild eines Wolfs. Ein Feuer brennt im
Kamin. Daneben sitzt mit verschränkten Ar­
men Sascha. Sein Handgelenk umschließt ein
Armband mit dem Symbol der Schwarzen
Sonne, ein Erkennungszeichen in der rechts­
extremen Szene. In der Ukraine gibt es – wie
in Russland – rechte Gruppen, die Teile der
Streitkräfte bilden. Als er gefragt wird, was
das Zeichen auf dem Armband bedeutet, sagt
er: »Faschist«, und lacht.
Er sagt, die Leute in den besetzten Gebie­
ten würden ihn als Faschisten beleidigen, ob­
wohl er Kleider und Medikamente für ihre
Kinder spendet. Er sei kein Faschist. Er selbst
würde sich auch nicht als Patrioten bezeich­
nen, denn diejenigen, die das tun, seien die
Ersten, die fliehen, wenn der Krieg beginnt.
Er selbst würde sagen, er sei ein Nationalist.
Denn ein Nationalist, der habe ein Ziel, und
der kämpft dafür. Wenn Russland angriffe,
sagt er, werde jedes Kind, jeder Greis kämp­
fen. Jeder könne helfen. Nebenan weben drei
alte Frauen aus der Nachbarschaft seit Stun­
den Tarnnetze für Soldaten.
Die Kinder seien die Basis, sagt Sascha.
Regelmäßig würden sie deshalb einen Tag
für Familien veranstalten, mit kostenloser
Suppe und vielen Spielen, um Kindern die
Scheu vor den Waffen zu nehmen. Mittler­
weile kämen mehr als 1000 Besucher. Sa­
scha zeigt ein Video, mit Rockmusik unter­
legt, in dem man sieht, wie Kinder mit Ge­

wehren schießen und auf Panzer steigen. Ab
sechs Jahren, sagt er, könne jedes Kind mit­
machen. Für die Kleineren habe man auch
etwas vorbereitet, damit sie sich nicht lang­
weilen.
Was möchte er, was die Kinder in der
Ukraine werden? »Nationalisten«, sagt Sa­
scha. So wie er. Leute, die für ihr Land kämp­
fen. Es gebe noch viel zu tun, sagt Sascha.
Wja tscheslaw nickt nachdenklich. Er hat noch
einmal versucht, seinen Sohn zu erreichen.
Aber der hat nicht mehr abgenommen.
Am nächsten Morgen fahren Sascha und
Wjatscheslaw raus, um einen ihrer Kamera­
den in seiner Autowerkstatt zu besuchen.
Der Kamerad heißt Anatolyj, bietet Kaffee
mit Zitrone an und zeigt einen verbeul­
ten  Mercedes Sprinter, der nicht mehr so
aussieht, als könnte er fahren. Sie wollen ihn
reparieren, sagt Sascha, um ihn als Kranken­
wagen einsetzen zu können, wenn Kiew an­
gegriffen wird. Krankenwagen werde die
Stadt dann nicht genug haben. Auch er habe
schon gegen die Russen gekämpft, sagt
Anatol yj. 1991 war das, am Blutsonntag in
Vilnius. Aber er brauche Wodka, um davon
zu erzählen.
Als erstes Land hatte Litauen damals sei­
ne Unabhängigkeit von der Sowjetunion er­
klärt. Sowjetische Kampfpanzer und Fall­
schirmjäger rückten gegen die Stadtmitte der
Hauptstadt Vilnius vor. Die Panzer walzten
Barrikaden nieder und überrollten Men­
schen. Zehntausende Einwohner schützten
damals das Parlament mit ihren bloßen Kör­
pern vor den sowjetischen Panzern. Schließ­
lich zogen sich die Panzer zurück. Vielleicht
ist die Lektion, dass man selbst mit einer der
größten Armeen nicht jeden Krieg gewinnen
kann.
Zum Abschied zeigt Anatolyj noch eine
alte Waffe, die an der Wand hängt, ein Ma­
schinengewehr. Die Waffe, sagt Sascha, habe
jahrelang nicht funktioniert, aber jetzt habe
Anatolyj sie repariert. Sie stammt aus dem
letzten Krieg, der hier in der Hauptstadt ge­
kämpft wurde, lange bevor Russen den Don­
bass angriffen. Es war ein Krieg, der mehr
Menschenleben forderte als jeder Krieg vor
und nach ihm. Allein in der Nähe Kiews wur­
den innerhalb von 48 Stunden mehr als
33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder
ermordet. Es war das größte einzelne Massa­
ker auf europäischem Boden. Es war ein Krieg
der Deutschen.
Vier Tage später, am Donnerstag, meldet
sich Wjatscheslaw aus Kiew per Videochat.
Er steht auf einem Parkplatz seiner Sied­
lung, spricht ruhig in die Kamera, im Hin­
tergrund hört man Sirenen. »Bitte unter­
richtet alle«, sagt er. »Wir haben Krieg. Wir
werden bombardiert. Der Flughafen brennt.
Menschen versuchen, die Stadt zu verlassen
und zu fliehen. Wir versuchen, ruhig zu
bleiben. Wir kaufen Lebensmittel ein und
bewachen unsere Häuser.« Er sagt, er habe
den Schutzraum geöffnet. Dann bricht das
Video ab. n

Daniel Leal / AFP
Schutzsuchende in Kiewer U-Bahn

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