Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 77

boy, ich arbeite auf dem Bau, ich gehe
in die Kirche. Aber Amerika verän­
dert sich.«
Die Veränderung, die er meint, er­
schließt sich nicht auf den ersten
Blick: Die Wälder in Pennsylvania
sind noch genauso grün wie vor
einem Jahr, die Autos nicht kleiner
als zuvor. Farmer verkaufen am Stra­
ßenrand Pfirsiche und Aprikosen. Die
Welt vor Pritchards Tür sieht aus wie
ein Postkartenidyll – nicht wie eine
Bedrohung.
Aber Pritchard sagt, er spüre sie.
An manchen Tagen kann er die Angst
wegschieben. Aber heute überkommt
sie ihn mit solcher Wucht, dass er die
ersten Kirchenlieder verpasst.
Die Angst ist da, seit Trump nicht
mehr Präsident ist. Seit da oben, in
Washington, wieder Leute sitzen, die
ihm fremd sind. Nun fühlt es sich so
an, als entglitte ihm sein Land.
Als Pritchard es schließlich doch
in die Kirche schafft, einen einstöcki­
gen Bau an einer Landstraße, setzt er
sich in eine der hinteren Reihen.
Senkt den Kopf und lauscht dem Pas­
tor, der heute die Predigt hält. Er er­
zählt die Geschichte von Noah, den
Gott rettete, weil er der Sünde wider­
stand. »Die Zeiten heute sind ähn­
lich«, sagt der Pastor. »Lasst uns für
unser Land beten und dafür, dass es
zu den Prinzipien Gottes zurück­
kehrt.«
»Amen«, sagt Pritchard und faltet
die Hände. Unter seinen Augen liegen
dunkle Teiche, alles Wütende ist aus
seinem Gesicht gewichen. Zurück
bleibt eine Traurigkeit, die, so wirkt
es an diesem Sonntag, alle Menschen
in der Kirche erfasst hat.
»Wir erkennen unser Land nicht
wieder«, sagen sie. »Joe Biden ist eine
Katastrophe für die USA.«
Die Menschen in der Kapelle se­
hen aus, als entstammten sie einem
Film aus den Fünfzigerjahren. Die
Frauen tragen knielange Kleider, die

längst aus der Mode gekommen sind,
viele Männer sind ergraut oder kahl.
Die wenigen jungen Besucher sitzen
neben ihren Eltern und starren auf
ihre Fingernägel. Unter den Gläu­
bigen ist an diesem Tag kaum ein
Schwarzer.
Es ist das alte, weiße Amerika,
konserviert wie in einer Zeitkapsel.
Das Amerika, das Trump »wieder
groß« machen wollte. Nun verhalten
sich die Leute, als ginge es zu Ende
mit ihnen. Und ein wenig stimmt das
ja auch.
Einer offiziellen Schätzung zufolge
war 2013 das erste Jahr, in dem in
den USA die Mehrheit der Neugebo­
renen nicht weiß war. Wenn sich die
Entwicklung fortsetzt, könnten 2051
im Land mehr Konfessionslose leben
als Protestanten, jahrhundertelang
erschien das unmöglich. Menschen
wie Jerry Pritchard merken, dass ihre
Vormachtstellung schwindet, nicht
nur politisch, sondern auch kulturell.
Firmen werben neuerdings mit Di­
versität und sexueller Vielfalt, Holly­
wood und die Musikszene unterstüt­
zen »Black Lives Matter« und Femi­
nismus. Die USA werden toleranter,
offener – alles, was die Konservativen
in Amerika nicht sind. Die Gläubigen
in der Kirche hören jetzt immer öfter,
wie privilegiert sie als Weiße seien.
Nur dass sie sich gar nicht privilegiert
fühlen. Sondern abgehängt.
Widerstand beschreibt in der Phy­
sik die Kraft, die ein Körper entgegen­
setzt, wenn er bewegt wird. Die USA
bewegen sich immer schneller in eine
Richtung, und Menschen wie Prit­
chard stemmen sich mit aller Macht
dagegen. Im Sommer 2021 besucht er
Sitzungen des örtlichen Schulaus­
schusses und echauffiert sich über
Bücher, die angeblich lehren, »dass
Männer Frauen sein können und
Frauen Männer.« Kandidiert für das
Amt des Gemeindevorstehers, mit
einem Programm, das nichts anderes
verspricht, als »pro­patriotisch« zu
sein und »pro­America First«.
Pritchard ist nicht allein: Überall
in den USA stürmen konservative
Christen Schulversammlungen und
fordern, Themen wie die Benachtei­
ligung von Schwarzen oder Trans­
identität aus dem Unterricht zu strei­
chen. Republikanische Politiker ver­
abschieden, getrieben von ihren Wäh­
lern, Gesetze, die es verbieten, dass
Lehrer in der Schule über Rassismus
in amerikanischen Institutionen spre­
chen. Die Republikaner legen Nicht­
weißen, die sich politisch beteiligen
wollen, Steine in den Weg.
Es ist ein Versuch, die Zeit zurück­
zudrehen, oft an der Grenze zur Il­

USA, nun galten sie als abgehängt.
Diesen Bedeutungsverlust spürt auch
Pritchard.
Sein Vater wurde 1940 in den Ber­
gen von North Carolina geboren und
wuchs in einem Haus ohne Strom auf.
Er besuchte nie eine Universität und
brachte es in seinem Leben trotzdem
zu Wohlstand: Er arbeitete als Buch­
halter, zog nach Pennsylvania, grün­
dete eine Baufirma, die heute viele
Menschen beschäftigt. Der Schul­
abbrecher Pritchard dagegen fände
außerhalb des Familienunternehmens
wohl keinen Job.
Er findet auch keine Frau, weil die
lieber fortziehen und studieren: An
den Universitäten des Landes stellen
Frauen inzwischen die Mehrheit. Zu­
rück bleiben Männer wie Pritchard,
die die Welt nicht mehr verstehen. Im
Jahr 1960 waren einer Studie zufolge
fast alle weißen Niedriglöhner im
mittleren Alter in den USA verheira­
tet. 2010 dagegen lebte mehr als die
Hälfte dieser Männer allein.
In seinen leisen, verletzlichen Mo­
menten fragt Pritchard manchmal:
»Warum habe ich keine Freundin?
Kannst du mir das erklären?« Er
merkt, dass nicht nur seine wirtschaft­
liche Zukunft unsicher ist. Auch auf
dem Heiratsmarkt ist er nichts mehr
wert. Der waffentragende Macho
ohne Diplom ist ein Auslaufmodell,
der Ladenhüter der Moderne.
Scham, sagen Psychologen, ent­
stehe aus der Diskrepanz zwischen
dem, was man gern wäre, und dem,
wie man wirklich ist. Trump­Anhän­
ger wie Jerry Pritchard füllen diese
Lücke mit Patriotismus und Pathos.
Am 6. Januar 2021 fühlte er sich für
einen Tag groß und wichtig: Er hat
Politiker in die Flucht geschlagen und
es weltweit in die Nachrichten ge­
schafft. Es ist rührend und erschre­
ckend zugleich, wie glücklich ihn das
macht.
»Es geht jetzt erst los«, behauptet
Pritchard. »Wir holen uns unser Land
zurück.« Vierzehn Tage später wird
Joe Biden als Präsident der USA ver­
eidigt.

Sommer 2021
»Amerika geht zugrunde.«
Tränen kullern über Pritchards
Wangen. Es ist ein trüber Sonntag im
August und so kalt, als hätte sich der
Sommer schon zurückgezogen. Prit­
chard steht auf der Terrasse seines
Hauses und ist eigentlich bereit für
die Kirche: Sein grauer Anzug ist ge­
bügelt, die Krawatte gebunden. Aber
er kann die Tränen nicht zurück­
halten. »Amerika verändert sich«,
schluchzt er. »Ich bleibe ein country

»Politik
bedeutet ihm
viel. Aber
es gibt noch
mehr im
Leben. Ich
glaube,
das lernt er
gerade.«
Pritchard-Verlobte
Carla

Christ Pritchard
in seiner Kirche in
Pennsylvania:
Zu den Prinzipien
Gottes zurückkehren

Monique Jaques / DER SPIEGEL

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