Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

76 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

meterhoch Schnee liegt? Er hat nie gelernt, abs-
trakt zu denken, und versteht nicht, dass seine
Wahrnehmung nur einen kleinen Teil der Rea-
lität widerspiegelt. Deshalb kann er zunächst
nicht begreifen, was am 3. November 2020 ge-
schieht: Donald Trump verliert die Wahl.
Pritchard ist an jenem Abend außer sich.
»Du hast doch gehört, dass alle Menschen
Trump wählen wollten!«, brüllt er mich an.
»Du warst dabei! Also erklär mir: Wie ist es
möglich, dass Joe Biden gewinnt?«
Es ist möglich, weil man Briefwahl nicht
sehen kann. Weil die kleine Stichprobe, die
Pritchard während seiner Wahlkampftour
nahm, nichts über das große Land sagt. Doch
es ist kein guter Zeitpunkt, ihm das zu erklä-
ren. Wenig ist so gefährlich wie männliche
Verzweiflung. Und Pritchard ist an diesem
Abend sehr verzweifelt.
Und nicht nur er: 74 Millionen Menschen
haben bei der Präsidentschaftswahl 2020 für
Trump gestimmt, elf Millionen mehr als vier
Jahre zuvor. Während das liberale Amerika
auf den Straßen von Philadelphia tanzt und
New York den Sieg von Biden mit einem Hup-
konzert feiert, beklagen sie das Ende der
Trump-Ära.
Was wird aus diesen Menschen? Was aus
diesem zerrissenen Land?
Pritchard sagt, er sorge sich, dass Amerika
in eine Diktatur abgleite. Dass Biden ihn und
seine Nachbarn zwingen könnte, Migrantin-
nen und Migranten in ihren Häusern aufzu-
nehmen. Seine Befürchtungen sind irrational:
genährt von den Lügen der Trump-Regierung
und Quatsch, den er im Internet gelesen hat.
Aber für ihn sind sie real.
»Mein Vater hatte eine Redewendung«,
sagt Jerry Pritchard einige Tage nach der Wahl
am Telefon. »Nichts Gutes passiert nach Mit-
ternacht.« Für ihn haben die Kirchenglocken
am 3. November zwölfmal geschlagen. Jetzt
beginnt die schwarze Nacht.

Jahresanfang 2021
Jerry Pritchard war nicht immer politisch: Die
meiste Zeit seines Lebens interessierte er sich
mehr für Partys als für Parteien. »Ich war ein
bad boy«, sagt er. Mit 16 brach er die Schule
ab, jobbte auf dem Bau, lernte eine Frau ken-
nen, sie bekamen zwei Kinder, die er heute
selten sieht. Seine Ehe ist seit Jahren geschie-
den. Er arbeitet in der Firma, die sein Vater
vor vielen Jahren gegründet hat.
Pritchards Leben las sich wie eine Chrono-
logie des Scheiterns: Schule geschmissen, Be-
ziehung kaputt, mit Mitte fünfzig wieder dort,
wo er mit 15 angefangen hatte. Dann kam
Donald Trump.
Als Trump im Januar 2017 Präsident wird,
steht plötzlich ein Mann an der Spitze der
USA, der Dinge so erklärt, dass sie für Prit-
chard Sinn ergeben: Weiße Amerikaner müs-
sen zusammenhalten, Migranten sind gefähr-
lich, China ist der Feind. Expertenwissen zählt
für Pritchard nicht, wichtiger ist Vertrauen,
und er vertraut nur Leuten, deren Aussagen
er kapiert. »Ich will nie wieder einen Präsi-

denten haben, der in Harvard oder Yale war«,
sagt Pritchard.
Die USA wurden jahrzehntelang von Dy-
nastien wie den Kennedys und Bushs regiert,
die Mächtigen in Washington erscheinen vie-
len Amerikanern abgehoben und arrogant.
Trump hat in den vier Jahren seiner Amtszeit
Hass entfesselt – aber er hat auch Menschen
wie Pritchard das Gefühl gegeben, dass man
keinen Uni-Abschluss haben muss, um mit-
zubestimmen. »Als Trump ins Amt kam, war
es, als würde er sagen: Ich gebe dir, Jerry Prit-
chard, die Macht«, so beschreibt er es. Nun,
nach der Wahl, fühlt es sich für ihn an, als
hätte man ihm diese Macht genommen.
Zwei Monate später, am 6. Januar 2021,
will Pritchard sich die Macht zurückholen,
zusammen mit Tausenden anderen Trump-
Fans. Und mit Gewalt.
Um 12.53 Uhr Ortszeit durchbricht ein
Mob eine Barrikade an der Westseite des Ka-
pitols. In den darauffolgenden Stunden ster-
ben vier Menschen: Eine Trump-Anhängerin
wird von einem Polizisten erschossen, zwei
Demonstranten erleiden Herzinfarkte. Eine
34-Jährige kollabiert wegen der Drogen, die
sie im Blut hat.
Nicht beziffern lässt sich der Schaden für
die amerikanische Demokratie. Der Gewalt-
ausbruch schockiert die amerikanische Öf-
fentlichkeit, selbst republikanische Politiker
verurteilen den Putschversuch. Pritchard da-
gegen läuft über vor Stolz. Am Telefon erzählt
er mit heroischem Unterton, wie er sich am


  1. Januar um 4.45 Uhr am Morgen in seinen
    Pick-up setzte und durch die Dunkelheit nach
    Washington, D. C., fuhr, vier Stunden lang.
    Wie er, eine Trump-Flagge über der Schulter,
    die Pennsylvania Avenue hinaufmarschierte
    in Richtung Kapitol. Er beschreibt, wie er an
    der Absperrung rüttelte, kurz bevor sie unter
    dem Druck der Demonstranten nachgab.
    Pritchard hat es nicht ins Gebäude ge-
    schafft: Er sei umgekehrt, als die Polizisten


begannen, mit Tränengas zu schießen. Aber
das trübt seine Laune nicht. »Es war unglaub-
lich!«, jauchzt er.
Für die USA waren es einige der dunkels-
ten Stunden ihrer jüngeren Geschichte. Für
Jerry Pritchard ist der Tag danach wohl einer
der glücklichsten seines Lebens. Er war kurz
davor, eine Straftat zu begehen, aber er fühlt
sich wie ein Held. Für einen Moment ist er
nicht mehr der Mann ohne Frau und Ab-
schluss. Er ist ein Kämpfer für die Freiheit
seines Landes.
Trump wurde 2016 Präsident, weil ihn wei-
ße Arbeiter ohne Universitätsabschluss ins
Amt hoben. Viele suchten damals die Erklä-
rung in der Wirtschaft: Die Arbeiter, hieß es,
hätten gehofft, dass Trump ihre Jobs aus
Übersee zurückhole. Doch das ist nur ein Teil
der Wahrheit. Jerry Pritchard leidet nicht
unter Arbeitslosigkeit. Er leidet unter seinem
gesellschaftlichen Abstieg.
Der Sänger Billy Joel schrieb einmal ein
Lied, das von der Gegend handelt, in der Prit-
chard lebt. »Allentown« erzählt, wie eine
Stadt verfällt, nachdem die Fabriken dort
dichtmachen:

»Jedes Kind hatte eine ziemlich
gute Chance
Mindestens so weit zu kommen
wie sein Vater
Doch etwas geschah auf dem Weg dahin
Sie warfen uns eine amerikanische
Flagge ins Gesicht«

Der Song beruht auf einem realen Ereignis:
dem Niedergang von »Bethlehem Steel«,
einer Stahlfirma in der Region, die bis in die
Neunzigerjahre Tausenden Menschen Arbeit
gegeben hatte. Schlimmer als die wirtschaft-
lichen Konsequenzen waren die emotionalen.
Die Arbeiter verloren nicht nur ihre Jobs,
sondern ihr Ansehen. Einst waren sie un-
verzichtbar für die großen Konzerne der

Kapitol-Stürmer am 6. Januar 2021: Die dunkelsten Stunden der jüngsten Geschichte

Shannon Stapleton / REUTERS

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