Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

78 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

legalität. Und zur Besessenheit. Im Sommer
2021 füllt Politik Pritchards gesamtes Leben
aus. Am Telefon verabschiedet er sich manch-
mal unironisch mit dem Slogan »Trump
2024«. Er betet, dass der Ex-Präsident noch
einmal antritt und »das Land rettet«.
Oft wirkt Pritchard dabei wie eine Gefahr
für die innere Sicherheit. Und manchmal steht
er auf seiner Terrasse und weint.
»Trumps Anhänger haben in den vergan-
genen Jahren riesige Verluste erlebt«, sagt die
Soziologin Arlie Hochschild, die für ihr Buch
»Fremd in ihrem Land« jahrelang konserva-
tive Christen begleitet hat. »Sie haben ihre
wirtschaftliche Stellung verloren. Den Stolz
auf ihre Identität. Sie gelten heute als rück-
ständig, ungebildet. Sie wissen das. Manche
reagieren mit Zorn. Andere mit Trauer.«

Herbst 2021
Dann passiert etwas Unerwartetes: Jerry Prit-
chard verlobt sich.
Fotos, die er bei Facebook hochlädt, zeigen
ihn am Strand mit einer blonden Frau. Er hat
die Arme um ihre Taille geschlungen. Hinter
ihnen geht die Sonne unter.
Sie heißt Carla, er hat sie über Facebook
kennengelernt. Sie hatten gemeinsame Freun-
de, und irgendwann schrieb er ihr: Bist du ein
Trump-Fan? Sie war einer. Sie trafen sich zum
Essen und schauten gemeinsam Filme. Im
September fiel Pritchard an einem Strand in
Florida vor ihr auf die Knie.
In den Wochen danach teilt er bei Face-
book weniger Kampfaufrufe, sondern Bilder
seines Gemüsegartens. Er verpasst jetzt
manchmal die Treffen des Schulausschusses,
bei denen er normalerweise wütet. Früher
antwortete Pritchard auf jede Nachricht
binnen Minuten und ging immer ans Telefon.
Jetzt klingelt sein Handy, ohne dass er abhebt.
Im Oktober 2021 begleitet seine Verlobte
Pritchard zu einem Kirchenbesuch. Obwohl
es draußen schüttet, kommt er pünktlich. Er

hat den Arm um Carla gelegt und wirkt auf-
recht und gefasst, ganz anders als im Sommer.
Nach dem Gottesdienst ist er mit seiner
Tochter zum Essen verabredet. Ashley, 33
Jahre alt, ist Autistin und lebt in einer Pflege-
einrichtung. Sie setzen sich in den hinteren
Raum eines Lokals, Carla neben Pritchard,
ihnen gegenüber seine Tochter und ihre Hel-
ferinnen.
Sie bestellen ihr Chickenwings, weil die
junge Frau es nicht allein kann: Ashley ist
blind, die Worte kommen nur bruchstückhaft
aus ihrem Mund und ergeben keinen Sinn,
den andere Menschen verstehen. Eine Zeit
lang versucht Pritchard, mit ihr zu sprechen,
dann gibt er auf und dreht sich weg.
Plötzlich doziert er aus dem Nichts über
Trump: über die Großartigkeit des Ex-Präsi-
denten, die vielen Feinde, die ihn angeblich
mit aller Macht aus dem Amt drängen woll-

ten. Mitten in einer Tirade über das »korrup-
te Washington« unterbricht ihn seine Ver-
lobte Carla. »Jerry«, sagt sie streng. »Hör auf.
Sprich mit deiner Tochter.«
Er verstummt. »Du hast recht«, sagt er.
Dann dreht er sich zu Ashley, und Trump ver-
lässt den Tisch.
»Ich weiß, Politik bedeutet ihm viel«, sagt
Carla später. »Aber es gibt noch mehr im
Leben. Ich glaube, das lernt er gerade.«

Manche behaupten, Amerikas Spaltung sei
gar kein Symbol des Niedergangs. Sondern
des Fortschritts.
Früher wurden beide Parteien – Republi-
kaner und Demokraten – vor allem von mit-
telalten, weißen, religiösen Männern geführt.
Ihre Politik ähnelte sich in vielem: Beide war-
ben für Härte gegen illegale Mi granten. Beide
fanden, Schwarze seien selbst schuld, wenn
sie weniger erfolgreich sind. Und beide Par-
teien sahen das Recht auf Abtreibung unge-
fähr gleich kritisch.
Seit einigen Jahren ist das anders. Minder-
heiten wachsen, und sie wählen öfter. Weiße
Arbeiter beteiligen sich stärker am politischen
Prozess. Wenn mehr Menschen ihre Interes-
sen vertreten, bedeutet das auch mehr Streit.
Das wirkt bedrohlich – aber in Wahrheit ist
es auch ein Zeichen einer lebhaften Demo-
kratie.
Den »Trump-Schrein« in Jerry Pritchards
Haus gibt es immer noch: die Tassen, das
Brettspiel, das Foto des Ex-Präsidenten, dra-
piert auf einem Tisch. Er steht nun etwas wei-
ter in der Ecke, an die Wand gedrückt. Viele
Trump-Schilder lagern in der Garage oder
sind eingeklemmt hinter Möbeln. Sie warten
darauf, hervorgeholt zu werden. Oder zu ver-
stauben.

Winter 2021/22
Ein Jahr ist es her, dass Tausende Trump-An-
hänger das Kapitol in Washington stürmten,
und mit ihnen Jerry Pritchard. Er verbringt
den Jahrestag in seinem Bett vor dem Fern-
seher. Fox News, Amerikas rechter Sender,
füllt sein Programm mit Tiraden gegen Joe
Biden und Kamala Harris, und Pritchard
schaut sie in Dauerschleife. »Diese Leute sind
verrückt!«, ruft er immer wieder ins Telefon.
»Verrückt! Sie bringen unser Land an den Ab-
grund.« Er wirkt fahrig, antwortet nicht auf
Fragen, verliert sich in Monologen, die nir-
gendwohin führen. In seinem Zimmer ist es
dunkel, nur der Bildschirm erhellt sein Gesicht.
Carla hat ihn vor zwei Monaten verlassen:
Sie ist jetzt mit einem Unternehmer zusam-
men, der Anzüge trägt und einen Abschluss
hat. Den teuren Verlobungsring hat sie be-
halten. »Sie hat mich nur ausgenutzt«, sagt
Pritchard leise.
Aber eigentlich will er nicht über Carla
reden. Sondern darüber, dass Trump bald
wieder Präsident wird.
Pritchard sagt, er wolle alles dafür tun.
Jetzt, wo Carla weg sei, habe er wieder Zeit
für Politik. n

Ex-Präsident Trump: Pritchard betet, dass er noch einmal antritt und »das Land rettet«

Der Gläubige


Alexandra Rojkov lernte Jerry Pritchard
kennen, als sie im Herbst 2020 für den
SPIEGEL über die US-Wahl berichtete.
Sie verbrachte den Wahltag mit ihm, ver-
ließ die Wahlparty aber vorzeitig, weil die
Republikaner mitten in der Pandemie in
einem fensterlosen Raum feierten und nie-
mand eine Maske trug. Pritchard nahm
ihr das tagelang übel. Im Jahr darauf be-
suchte Rojkov den Republikaner mehrfach,
begleitete ihn in die Kirche und zum Schul-
ausschuss, wo er sich über die in seinen
Augen zu liberale Bildung der Kinder aufregte.
Pritchard erzählte offen von seinem Leben,
scherzte – aber seine Laune konnte binnen
Sekunden umschlagen. Er wurde wütend,
wenn man Trump kritisierte oder Joe Biden
verteidigte. Trotzdem will Rojkov mit dem
Republikaner in Kontakt bleiben – mindes-
tens bis zur Präsidentschaftswahl 2024.

Brian Cahn / action press

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