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(Martin Jones) #1

kärpflingen der Gattung Cyprinodon leben nur in isolierten
Salzwasserquellen Kaliforniens oder Nevadas.
Aber nicht immer erscheint für die Evolution neuer
Arten eine geografische Trennung zwingend. Es gibt
durchaus Fälle, in denen sich im selben Lebensraum zwei
oder mehr Subpopulationen mit unterschiedlichem Er-
scheinungsbild herausbilden, aus denen getrennte Arten
werden können. Dennoch hielten namhafte Evolutionsfor-
scher wie der deutsch-amerikanische Biologe Ernst Mayr
(1904–2005) auch für diese Beispiele weiterhin an der
These fest, dass zumindest eine vorübergehende räum-


liche Barriere zur Speziation unerlässlich sei. Sie glaubten,
falls es Artbildung im selben Gebiet – eine so genannte
sympatrische Speziation – überhaupt gäbe, sei das be-
stimmt äußerst selten.
Neueren Studien zufolge ist eine geografische Isolation
allerdings keineswegs immer vonnöten. Als ein Fall sym-
patrischer Artbildung gelten etwa die beiden verschiede-
nen Kentia-Palmen der Gattung Howea, die nur auf der
australischen Lord-Howe-Insel vorkommen und bei uns als
Zierpflanzen beliebt sind. Die beiden Spezies, deren Ver-
breitungsgebiete sich teils überlappen, blühen zu verschie-
denen Zeiten. Zu den überzeugendsten Beispielen von
Speziation ohne räumliche Barriere zählen die verblüffend
artenreichen Buntbarsche oder Cichliden der ostafrikani-
schen großen Seen und der Kraterseen Nicaraguas, die
unter anderem Axel Meyer von der Universität Konstanz
erforscht (siehe Spektrum April 2014, S. 24 ). Deren teils sehr
schnelle Evolution beruht darauf, dass sie – wohl haupt-
sächlich mit körperlichen Anpassungen – teils völlig unter-
schiedliche Nahrungsquellen erschlossen. Für Säugetiere
gibt es bislang aber kaum entsprechende Belege. Das
macht die Orcas umso interessanter.
Nach dem Menschen ist der Schwertwal das am
weitesten verbreitete Säugetier. Dabei vermag ein Orca
an einem Tag mehr als 100 Kilometer zurückzulegen,
und im Verlauf weniger Wochen können ein paar tausend
Kilo meter zusammenkommen. Soweit wir wissen, stehen
einer Paarung der Mitglieder von Nachbarpopulationen
keine geografischen Hindernisse im Weg. Trotzdem
geschieht das offensichtlich nicht. Vielmehr verzeichnen
die Forscher in vielen Meeresgebieten sogar direkt
neben einander unterschiedliche Existenzformen oder
Ökotypen. Diese leben quasi Seite an Seite, ohne jedoch
engeren Kontakt aufzunehmen. Im selben Verbreitungs-
gebiet frisst der eine Typ beispielsweise am liebsten be-
stimmte Fische, der andere vor allem Robben und andere
Meeressäuger (siehe »A« und »D« oder »B« und »E« in
»Die Vielfalt der Orcas«, S. 40/41).


Die gründlichsten Untersuchungen hierüber liegen zu
den Schwertwalen des Nordostpazifiks vor. Schon in den
frühen 1970er Jahren erkannte der kanadische Meeres-
biologe Michael Bigg (1939–1990), dass man Individuen
eindeutig anhand ihrer Rückenfinne und dem dahinter
befindlichen grau-weißlichen Sattelfleck unterscheiden
kann. Wie Bigg dann zusammen mit Kollegen entdeckte –
darunter John K. B. Ford und Graeme M. Ellis von der
kanadischen Regierungsbehörde DFO (Department of
Fisheries and Oceans) sowie Kenneth C. Balcomb III vom
Center for Whale Research im US-Bundesstaat Washing-
ton –, leben vor der Westküste Kanadas und der USA drei
verschiedene Ökotypen nebeneinander.

Die drei Ökotypen vor Westkanada, ihre Ortspräferen-
zen und Ernährungsgewohnheiten
Einen der drei Ökotypen nannten die Forscher »residents«,
die »Ansässigen«: Diese Individuen sind über größere
Zeiträume recht ortsfest und auf Fische spezialisiert;
bevorzugt erbeuten sie Lachse. Die »transients« (die
»Durchreisenden« oder »Nomaden«) fressen dagegen
hauptsächlich andere Meeressäuger, also Robben und
andere Wale, sowie gelegentlich Seevögel. Die »offshores«
bilden die dritte Fraktion. Sie halten sich meist von der
Küste fern und ernähren sich wohl ebenfalls gern von
Fischen, allerdings etwa von Pazifischem Heilbutt, der
mehr als zwei Meter groß werden kann, und vom bis zu
gut vier Meter langen Pazifischen Schlafhai. Von diesem
küstenscheuen Ökotyp wissen die Forscher nur wenig,
denn sie bekommen ihn nur selten zu Gesicht.

Unterschiede ähnlich wie die zwischen den ortsbestän-
digen und den nomadischen nordostpazifischen Orcas
fanden andere Forscherteams in den vergangenen Jahren
auch bei den Orcas im russischen Nordwestpazifik rund
um die Halbinsel Kamtschatka. Jene Studien leiteten Olga
A. Filatova von der Lomonossow-Universität Moskau,
Alexander M. Burdin von der Russischen Akademie der
Wissenschaften sowie Erich Hoyt von Whale and Dolphin
Conservation in England. Demnach erstrecken sich Popu-
lationen von »ortsfesten« Schwertwalen mehr oder weni-
ger kontinuierlich von Nordamerika über die Aleuten bis
nach Russland; Gleiches gilt für nomadische Gruppen.
Die Schwertwale im nordöstlichen Atlantik – bei Island,
den Shetland-Inseln und Norwegen – haben hingegen ihre
eigenen Nahrungspräferenzen, wie unter anderem For-
scher um Volker B. Deecke von der University of Cumbria

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Unser Online-Dossier zum Thema
finden Sie unter
spektrum.de/t /evolution
FOTOLIA / HL PHOTO

Vielleicht sehen wir bei den


Orcas einen Mechanismus der


Artbildung, den die klassische


Theorie nicht in Betracht zieht

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