lichkeit damit rechnen, ebenfalls zu erkranken. In Europa
und Amerika trifft es einen von 10 000 Menschen.
Dass bei Chorea Huntington Neurone in Bereichen des
Endhirns absterben, und zwar im Corpus striatum (Strei-
fenkörper) und in der Großhirnrinde, weiß man ebenfalls
schon länger. Jene Gebiete beteiligen sich an der Bewe-
gungskontrolle und an höheren geistigen Funktionen. Aber
wieso veranlasst eine längere Glutaminkette im Protein
solche Hirnschädigungen? Dieser Frage sowie der Suche
nach Gegenmitteln widmet sich ein Großteil der For-
schung über das Leiden. Unser Mailänder Labor ist dabei
nur eines von vielen.
Manche von uns denken seit Jahren darüber nach,
wieso die schädlichen Genversionen nicht über die Gene-
rationen langsam der natürlichen Selektion zum Opfer
fallen. Liegt hier etwa eine biologische Gratwanderung
vor? Bringt eine mäßig lange Glutaminkette womöglich
irgendwelche Vorteile, während die Situation bei zu vielen
Tripletts im Huntingtin-Gen plötzlich kippt?
Tatsächlich stellte sich heraus, dass eine CAG-Kette
Hirnzellfunktionen steigert, solange die kritische Länge
nicht überschritten ist. Und das gilt erstaunlicherweise
nicht nur für den Menschen, sondern ebenfalls für ver-
schiedene Tiere. Das Huntingtin-Gen scheint sogar schon
für die Evolution von Tieren eine wichtige Rolle zu spielen
sowie bei den Wirbeltieren und ihren Vorfahren für die
Entwicklung des Nervensystems. So gesehen handelt es
sich bei Chorea Huntington offenbar nicht um eine Erb-
krankheit im herkömmlichen Verständnis, die durch eine
Ausfallmutation entsteht. Vielmehr scheint hier ein an sich
vorteilhafter evolutionärer Vorgang aus dem Ruder gelau-
fen zu sein. Eigentlich macht die Mutation wohl klüger,
doch paradoxerweise darf die Anhäufung der Tripletts
nicht zu weit getrieben sein.
Die Untersuchung dieser Zusammenhänge führte die
Forscher mehr als eine Milliarde Jahre zurück: zum Über-
gang zwischen Paläo- und Mesoproterozoikum, als es
noch keine Tiere gab. Damals lebten anscheinend Organis-
men, die erstmals ein Huntingtin-Gen aufwiesen, obwohl
es sich von der menschlichen Version unterschied. Denn
von diesen Lebensformen stammen nicht nur alle Tiere ab,
sondern auch die zeitweise »soziale« Aggregate bildende
Amöbe Dictyostelium discoideum. Forscher glauben, dass
ein gemeinsamer Vorfahr aller Tiere ihr ähnelte.
Diese Amöbe lebt in Waldböden auf zerfallendem
Pflanzenmaterial. Ihr Huntingtin-Gen fand 2009 eine For-
schergruppe um Miguel Andrade-Navarro, der damals am
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin
arbeitete. Dem Gen fehlt allerdings besagtes CAG-Triplett.
Offenbar braucht D. discoideum das Protein Huntingtin,
wenn sie von der ein- in die mehrzellige Lebensform wech-
selt, um mit widrigen Umweltbedingungen besser zurecht-
zukommen: Bei Nahrungsmangel etwa schließen sich die
Einzelzellen zu Verbänden zusammen, die dann gestielte,
Pseudoplasmodien genannte Körper mit einem Köpfchen
bilden, das zur Verbreitung Sporen in die Luft freisetzt.
Ohne Huntingtin vermögen die Zellen schlecht zu kriechen
und sich nicht normal zu aggregieren. Das entdeckten
2011 Michael Myre und James Gusella vom Massachu-
setts General Hospital in Boston.
Futter erkennen, Verbände bilden:
Diverse Rollen einer urzeitlichen Erbsequenz
Anscheinend hat das Gen für die Amöbe noch mehr
lebenswichtige Zwecke. So bestimmt es den Zeitpunkt der
Reproduktion und reguliert ihre Reaktion auf Umweltreize,
wenn sie auf Futter zukriecht. Wir fanden zudem heraus,
dass die Genversion von Dictyostelium Säugetierzellen
davor schützt, sich auf bestimmte Reize hin selbst umzu-
bringen – also einen so genannten programmierten Zell-
tod, Apoptose genannt, einzuleiten.
Ein ähnlicher Organismus dürfte schon existiert haben,
bevor sich die frühen Tiere vor mehr als 550 Millionen
Jahren in die beiden großen heutigen Äste aufspalteten:
einerseits die Protostomier (»Urmünder«), zu denen die
meisten wirbellosen Tiergruppen zählen, darunter die
Insekten, Krebse, Schnecken und Muscheln; andererseits
die Deuterostomier (»Neumünder«). Hierhin gehören die
Wirbeltiere und einige Gruppen von Wirbellosen. Zoologen
erkennen die Zugehörigkeit von Tieren zu einem dieser
beiden Äste unter anderem an ihrer frühen Keimesentwick-
lung, wenn sich die Zellen zu ordnen und zu differenzieren
beginnen und hiermit die Lage der Körperöffnungen und
Organe vorgeben. Das Besondere an den Deuterostomiern:
Nur bei Tiergruppen von diesem Ast haben sich im Hun-
tingtin-Gen im Lauf der Evolution die erwähnten CAG-Tri-
pletts angehäuft.
Wie wir 2008 entdeckten, tritt das Phänomen überra-
schenderweise auch schon bei den stammesgeschichtlich
ziemlich basalen Stachelhäutern auf – so beim Purpursee-
igel Strongylocentrotus purpuratus. Als wir zusammen mit
Bioinformatikern unserer Universität die Sequenz vom Hun-
tingtin-Gen dieses »Neumünders« bestimmten, fanden wir
in dessen vorderem Teil zwei CAG-Tripletts hintereinander.
Die DNA-Sequenz des Seeigelgens unterscheidet sich
noch deutlich von der menschlichen Version. Diese Stachel-
häuter verfügen zwar über ein einfaches Nervensystem,
aber sie verwenden Huntingtin vorwiegend in anderen Ge-
AUF EINEN BLICK
PARADOX CHOREA HUNTINGTON
1
Die Huntington-Krankheit beruht auf einer genetischen
Abweichung, wodurch Hirnzellen degenerieren. Eine
Dreiergruppe – ein Triplett – von Bausteinen in einem
Gen wiederholt sich bei Betroffenen zu oft.
2
In seiner Ursprungsform ist dieses Gen uralt. Schon
Vorgänger der Tiere besaßen es. Sie benötigten es
unter anderem für Zellaggregate.
3
Später kam eine neue Funktion hinzu: Einfluss auf die
neuronale Entwicklung – der mit der Länge jener
Triplettreihe wuchs. Beim Menschen ist dies maximal
ausgeprägt, kann sich allerdings fatal übersteigern.