weben. Vermutlich waren auf frühen evolutionären Ent-
wicklungsstufen also weder das Gen noch die Tripletts für
Nervensysteme sonderlich bedeutend.
Über die Protostomier wissen wir in dieser Hinsicht
noch nicht viel. Fest steht bisher aber, das bei ihnen solch
ein CAG-Triplett im Huntingtin-Gen höchst selten vor-
kommt und bei den meisten ihrer Tierstämme wohl gar
nicht. Doch Bienen zum Beispiel haben eines, allerdings
tatsächlich nur ein einziges.
Die Situation bei verschiedenen Zweigen der Deutero-
stomier haben wir uns in den späten 2000er Jahren ge-
nauer angeschaut. Am meisten haben uns die Lanzett-
fischchen verblüfft, deren Huntingtin-Gen wir zusammen
mit der Arbeitsgruppe von Mario Pestarinos von der Uni-
versität Genua untersuchten. Die kleinen, urtümlich ge-
bauten Chordatiere werden zu den »Schädellosen« ge-
stellt. Sie zählen nicht zu den Fischen, aber der polare
Aufbau ihres Nervensystems markiert einen wesentlichen
Entwicklungsschritt von dessen Evolution im Vorfeld der
Wirbeltiere. Denn ihr Neuralrohr, das sich vom Vorder-
zum Hinterende des Tiers zieht, bildet vorn ein einfaches
Bläschen. Diese Struktur deuten Biologen als einen frühen
Vorläufer des Wirbeltiergehirns.
Wie beim Seeigel enthält das Huntingtin-Gen von Lan-
zettfischchen zwei CAG-Tripletts hintereinander. Doch
anders als bei Ersterem gleichen die DNA-Sequenzen in
der Umgebung des Triplettpaars bereits denen von Wirbel-
tieren. Zudem beschränkt sich das zugehörige Protein
jetzt weitgehend auf Nervengewebe. Ist der Unterschied
gegen über dem Seeigelgen womöglich daran beteiligt,
dass Lanzettfischchen ein einfaches Gehirn mit der für
Wirbeltiere typischen Längsausrichtung ausbilden?
Anschließend untersuchten Forscher jenes Gen bei
verschiedenen Wirbeltieren. Wie sich zeigte, steigert sich
die Anzahl der CAG-Tripletts im Lauf ihrer Evolution bei
Arten mit komplexeren Nervensystemen merklich (siehe
»Evolution eines Gens«, S. 72/73). Besonders fällt das bei
den Säugetieren auf: So haben Opossums sechs CAGs,
Mäuse sieben, Hunde zehn, Hausrinder 15 und Schweine
- Bei einigen Gruppen, etwa bei Primaten, kann die An-
zahl zwischen den Individuen derselben Art schwanken –
bei Menschen von acht an aufwärts bis zu über 200.
Längere Glutaminkette im Huntingtin-Protein
ergibt mehr Hirnleistung
Die Wirbeltiere schrieben ein neues Kapitel der Hirnevolu-
tion. Ihr Gehirn entsteht aus dem verbreiterten vorderen
Ende des schlauchförmigen embryonalen Neuralrohrs. An
dessen Ausformung wirkt das Huntingtin-Gen mit, wie
eine Forschergruppe um Marcy MacDonald vom Mas-
sachusetts General Hospital in Charlestown 1997 erkannte.
Diesen Befund bestätigten und erweiterten wir 2012 mit
dem Nachweis, dass sich in Zellkulturen unter Beteiligung
von Huntingtin einem Neuralrohr ähnelnde Strukturen
herausbilden.
Zu der Zeit hatten verschiedene Studien mit ursprüng-
lich ganz anderen Zielrichtungen bereits Hinweise auf eine
weitere Funktion der angehäuften CAG-Tripletts geliefert,
Entwicklungsgeschichte nachspielen
Das Gen Huntingtin, das Chorea
Huntington verursacht, beeinflusste
offenbar die Gehirnevolution der
Wirbeltiere. Eine seiner Eigen-
arten – und Ursache für die Krank-
heit – ist die wiederholte Nukleotid-
sequenz CAG an einer bestimmten
Stelle, die sich dort im Lauf der
Evolution anhäufte. Im entspre-
chenden Abschnitt des zugehö-
rigen Proteins, Huntingtin genannt,
reihen sich dadurch Glutamin-
Aminosäuren aneinander. Mehr
Glieder in der Kette erlauben es, im
Embryonalstadium komplexere
neuronale Strukturen anzulegen.
Wir haben das Phänomen in
Zellkulturen mit Stammzellen von
frühen Mäuseembryonen unter-
sucht. Mit Substanzen, welche die
Entwicklung des Nervensystems
lenken, entstehen aus ihnen Neuro-
epithelzellen. Diese gruppieren sich
im Kulturmedium um eine zentrale
Höhlung und bilden typische so
genannte neuronale Rosetten –
was dem Neuralrohr des Embryos
entspricht, aus dem das Zentral-
nervensystem wird.
Zunächst wiesen wir nach, dass
Huntingtin für die Rosettenbildung
nötig ist: Ohne funktionsfähiges
Gen vermögen die Zellen nicht
entsprechend aneinanderzuhaften,
weil dann ein Enzym die Haft-
proteine an ihrer Oberfläche zer-
schneidet. Mit in Stand gesetztem
Erbfaktor bilden sich wieder die
Rosetten.
Dann tauschten wir das Gen der
Mäusestammzellen gegen die
entsprechenden DNA-Abschnitte
einer Reihe anderer Organismen
unterschiedlicher evolutionärer
Entwicklungshöhe aus. Mit dem
Huntingtin der Amöbe Dictyoste-
lium, die nahen Vorfahren aller
Tiere ähneln dürfte, erfolgte keine
Rosettenbildung – das Gen weist
noch keine solche CAG-Sequenz
auf. Erste Anmutungen einer un-
vollständigen Rosettenstruktur aus
relativ wenig Zellen erbrachte das
Gen von Lanzettfischchen mit
seinen zwei CAGs in Folge. Je mehr
Wiederholungen von CAG das Gen
enthielt, um so größer, deutlicher
und zellreicher wurden die Roset-
ten und um so weiter war die Höh-
lung. Schon das Fischgen mit vier
CAGs führte zu schönen Gebilden
aus wesentlich mehr Zellen. Die
besten, größten und am meis ten
strukturierten Rosetten aus vielen
Zellen aber brachte ein mensch-
liches Huntingtin mit 15 CAGs.