Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

FORSCHUNG AKTUELL


PALÄOGENETIK


FRÜHER BESUCH BEI


DEN NEANDERTALERN


Lange vor seiner großen Einwanderungswelle aus
Afrika muss der Homo sapiens schon einmal in
Eurasien aufgetaucht sein. Im Genom der Neander-
taler hinterließ er eine deutliche genetische Spur:
genau gesagt in ihren Mitochondrien.


Ein Teil der Geschichte ist bekannt: Vor rund 50 000
Jahren kam der anatomisch moderne Mensch aus sei-
ner Heimat Afrika nach Eurasien, traf auf den Nean-
dertaler und tauschte mit ihm Gene aus. Das geschah
vermutlich in Nahost. Und während Homo sapiens sich an-
schickte, die Welt zu beherrschen, verschwand der Nean-
dertaler von der Bildfläche. Nur manche seiner Gene leben
bis heute weiter, in winzigen Dosen verstreut über das
Erbgut der Europäer und Asiaten.
Allerdings begegneten sich die beiden Menschenfor-
men damals wohl nicht zum ersten Mal. Dem Aufeinan-
dertreffen am Ende der Neandertaler-Epoche ging anschei-
nend ein viel früherer Kontakt voraus, der irgendwann

zwischen vor 470 000 und 220 000 Jahren stattfand. Der-
zeit dürften Angehörige des frühen Homo sapiens, also
noch nicht des modernen Menschen, den Weg aus Afrika
genommen haben. Diese Wanderung verebbte jedoch,
soweit bekannt, ohne Spuren zu hinterlassen – außer im
Neandertaler selbst.
Um jene Anhaltspunkte zu entdecken, muss man tief
in genetische Details dieses Frühmenschen eintauchen, so
wie jetzt ein internationales Forscherteam um Cosimo
Posth und Johannes Krause, die an der Universität Tübin-
gen und am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschich-
te in Jena arbeiten. In einem 125 000 Jahre alten Ober-
schenkelknochen fanden sie Hinweise darauf, dass die so
genannte Mitochondrien-DNA der klassischen europäi-
schen Neandertaler praktisch komplett von besagten
frühen Einwanderern aus dem Süden stammte. Das Fossil
wurde schon 1937 in der Hohlenstein-Stadel-Höhle auf
der Schwäbischen Alb geborgen.
Nicht nur der Zellkern enthält Erbgut. Auch in den
Mitochondrien, den Zellkraftwerken, steckt etwas davon,
und diese besondere mtDNA wird in aller Regel nur von
der Mutter mit dem Ei an den Nachwuchs quasi unver-
ändert weitergegeben. Das bedeutet, die Mitochondrien-
DNA vermag zwar wie alle Erbgutsequenzen langsam zu
mutieren, wird aber bei der Fortpflanzung nicht mit derje-

Querschläger im Stammbaum


Vor einigen hunderttausend Jahren
haben die Neandertaler bezie-
hungsweise nahe Vorfahren ihre
Mitochondrien gegen welche vom
frühen Homo sapiens ausgetauscht.
Die breiten Balken zeigen die
Abstammungs linien laut Zellkern-
DNA von Ne andertalern, Denisova-

nern und dem Homo sapiens. Die
schmalen, farbigen Bänder ver-
weisen auf die Herkunft der Mito-
chondrien – Zellorganellen für den
Energie haushalt mit ei gener DNA.
Die Denisovaner, auf deren gene-
tische Spur Forscher bei Fossilien
aus dem Altaigebirge stießen,

behielten ihre Mitochondrien bei,
ebenso noch Frühmenschen in
Spanien aus der berühmten »Kno-
chenhöhle«. Doch die späten
Neandertaler besaßen Mitochon-
drien, die sie nachträglich vom
Homo sapiens übernommen haben
müssen.

Neandertaler

Mensch der »Knochenhöhle« in Spanien

Denisovamensch

Homo sapiens
765–550 vor heute

Schicksal der
Mitochondrien

Zeit in Jahrtausenden heute

470–380

470–220

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK, NACH: ANNETTE GÜNZEL, MPI-SHH
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