Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1
Schlaganfällen und Herzversagen. Die erste Generation
dieser Arzneimittel hat sich zwar als wirksam erwiesen,
aber da sie sich nur schwach an den Rezeptor haften,
müssen hohe Dosen verabreicht werden. Die Folge sind
entsprechend starke Nebenwirkungen.
Mit unserer Forschung konnten wir den Grund der
schwachen Bindung aufklären: Die Arzneimittel passen
nicht so gut zum Rezeptor, wie sie sollten. Das führte zur
Entwicklung neuer, potenziell wirksamerer ARB, von
denen sich ein Medikament inzwischen in der klinischen
Erprobung befindet.

Bahnbrechende Bilder für die Pharmazie
und die Grundlagenforschung
Die stark verbesserten räumlichen und zeitlichen Auflö-
sungen könnten helfen, viele weitere Arzneimittel zu
optimieren. Die Angiotensin-II-Rezeptoren gehören zu
einer großen und sehr wichtigen Gruppe von Antennen-
molekülen, den G-Protein-gekoppelten Rezeptoren in der
Zellmembran. Diese ermöglichen es einer Zelle, ihre
Umgebung wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
Die Wissenschaftler, die als Erste den Aufbau und die
Wirkungsweise dieser Rezeptorklasse beschrieben ha-
ben, erhielten für ihre bahnbrechende Arbeit 2012 den
Nobelpreis für Chemie. Die tragende Rolle der Rezep-
toren beim Überleben und Wachstum einer Zelle macht
sie zu hervorragenden Angriffszielen für neue Arzneimit-
tel. Veränderungen ihrer Strukturen sehen zu können,

QUELLEN
Chapman, H. N. et al.: Femtosecond X-Ray Protein Nanocrystallo-
graphy. In: Nature 470, S. 73–77, 2011
Fromme, P.: XFELs Open a New Era in Structural Chemical Biology.
In: Nature Chemical Biology 11, S. 895–899, 2015
Spence, J. C. H. et al.: X-Ray Lasers for Structural and Dynamic
Biology. In: Reports on Progress in Physics 75, 102601, 2012
Waldrop, M. M.: X-Ray Science: The Big Guns.
In: Nature 505, S. 604–606, 2014

wird pharmazeutischen Chemikern beim Entwickeln von
Arzneimitteln helfen, die sich optimal an die Rezeptoren
im aktiven Zustand binden und weniger Nebenwirkungen
haben.
Vadim Cherezov von der University of Southern Califor-
nia erläutert die Bedeutung des von ihm durchgeführten
Angiotensin-II-Experiments: »Wir haben gezeigt, dass in all
unseren früheren Molekülmodellen selbst die besten Ab-
schätzungen zur Passgenauigkeit von Rezeptor und Arz-
neimittel in vielen wichtigen Punkten nicht korrekt waren.«
So hat SFX Unterschiede in den Strukturen G-Protein-
gekoppelter Rezeptoren offenbart, je nachdem, ob sie bei
Raumtemperatur oder der in der Kristallografie üblichen
niedrigen Temperatur errechnet wurden. Arzneimittel wur-
den bislang gewissermaßen für gefrorene Rezeptoren ent-
wickelt statt für den warmen menschlichen Körper.
Manchmal sind Arzneimittel auch zu unspezifisch, zum
Beispiel bei der Behandlung der Schlafkrankheit. Unsere
Filme haben gezeigt, dass die Medikamente nicht nur mit
den Proteinen des verursachenden Parasiten in Wechsel-
wirkung treten, sondern in vergleichbarer Weise auch mit
menschlichen Zellen. Auf Grund unserer präziseren Auf-
nahmen haben Pharmazeuten jetzt einen neuen Ansatz für
Arzneimittel, die selektiv das parasitäre Protein angreifen
und nicht das menschliche.
Viele Wissenschaftler nutzen SFX inzwischen, um
unterschiedlichste Fragen zu beantworten. Marius
Schmidt von der University of Wisconsin-Milwaukee und
seine Kollegen erklärten beispielsweise mit molekularen
Filmen, wie unsere Augen etwas wahrnehmen. Bakterien
können zwar nicht in unserem Sinne sehen, verfügen aber
über lichtempfindliche Proteine, die evolutionär betrachtet
Vorläufer der Rezeptormoleküle unseres eigenen visuellen
Systems sind. Das Team erstellte ein Zeitlupenvideo der
extrem schnellen Reaktion eines solchen kristallisierten
bakteriellen Proteins auf Licht. In Abständen von einer
billionstel Sekunde zeigen die Bilder genau die dynami-
sche Phase nach der Absorption, noch bevor das Molekül
weiter reagieren konnte. Dieser Zustand ist elementar für
die Lichtwahrnehmung aller lebenden Organismen und
der erste Schritt beim Sehprozess.
Wir sind überzeugt, dass die Zukunft der Kristallografie
in dieser Methode der ultraschnellen Bildgebung liegt.
Und wer weiß – vielleicht werden viele der bekannten
Proteinstrukturen im kommenden Jahrzehnt nicht mehr
statisch in Lehrbüchern abgebildet sein, sondern jeder
wird sie und ihre Wechselwirkungen als dreidimensiona-
len Film abrufen können.

Um große Bereiche des Beugungsmusters um den zentralen
Röntgenstrahl zu erfassen, besteht der Detektor aus vielen
quadratischen Sensoren. Die kleinen Kreise in den Einzelbildern
kennzeichnen gestreute Lichtteilchen und lassen sich in In-
formationen über die Struktur des Proteins umrechnen. Der
dunkle Ring entsteht durch Lösungsmittel im Kristall.

WHITE, T.A. ET AL.: SERIAL FEMTOSECOND CRYSTALLOGRAPHY DATASETS FROM G PROTEIN-COUPLED RECEPTORS. IN: SCIENTIFIC DATA 3, ART. 160057,


2016, FIG. 2D (WWW.NATURE.COM/ARTICLES/SDATA201657) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
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