Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

KEIMBAHNTHERAPIE


MENSCHENDESIGN


DURCH DIE HINTERTÜR


Mediziner wollen männliche Unfrucht barkeit therapieren, indem
sie Spermienzellen genetisch verändern. Doch damit würden
sie ethisch betrachtet eine rote Linie überschreiten. Denn die
Modifikationen verblieben in der Keimbahn und würden auf
diese Weise weitervererbt.

Stephen S. Hall ist preisgekrönter Wissenschaftsautor und
lehrt Wissenschaftskommunikation an der New York University.

 spektrum.de/artikel/


Kyle Orwig würde nur zu gern ein Experiment machen,
das einige Leute ungeheuer aufregen dürfte. Der
Profes sor an der University of Pittsburgh und Experte
für die Biologie von Spermien interessiert sich insbeson­
dere dafür, wie spezialisierte Stammzellen in den Hoden
die Samenzellen erzeugen. Hin und wieder verhindert ein
genetischer Defekt, dass dieser Vorgang zu Ende läuft,
was den betreffenden Mann unfruchtbar macht. In dem
Experiment, das Orwig vorschwebt, würde er den Defekt
in den Spermien bildenden Stammzellen von Mäusen
durch »Gen­Editing« – kontrolliertes Verändern von Erbfak­
toren – beheben und die so behandelten Zellen unfrucht­
baren Tieren wieder einpflanzen. Damit hätte er eine
potenzielle Behandlungsmethode für männliche Sterilität
aufgezeigt.
Nach Orwigs Ansicht wäre das Ganze nicht besonders
schwierig umzusetzen, schließlich macht er ähnliche
Transplantationsexperimente schon seit 20 Jahren. Die
Folgen aber könnten gewaltig sein. Experimente, wie
Orwig sie sich vorstellt, würden sich einer roten Linie in
der biologischen Forschung nähern: Sie bahnen den Weg
zu dauerhaften Veränderungen des genetischen Texts
der Spezies Mensch, die an zukünftige Generationen wei­
tergegeben werden.
Stellte sich eine solche Keimbahnmodifikation als un ­
gefährlich, wirksam und ethisch hinnehmbar heraus,
könnten Wissenschaftler beispielsweise bestimmte Krank­

heitsanfälligkeiten aus unserer DNA beseitigen – aber
auch versuchen, den Homo sapiens genetisch zu opti­
mieren. Der Gedanke weckt düstere Erinnerungen an die
Eugenikbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die
im Nazideutschland ihren schrecklichen Höhepunkt fand.
Orwig legt es nicht darauf an, ethische Grenzen zu
überschreiten. Dennoch ist er so etwas wie ein Provoka­
teur. Mit dem Nachweis, dass sich Unfruchtbarkeit bei
Mäusen mit geringfügigen genetischen Veränderungen
heilen lässt, möchte er demonstrieren, dass die vererb­
bare Modifikation menschlicher Gene keine abstrakte He­
rausforderung in ferner Zukunft ist, sondern schon sehr
bald medizinische Bedeutung erlangen kann.
Die Frage der Keimbahnveränderung ist in den letzten
Jahren so akut geworden, weil ein neues, leistungs ­
fähiges genetisches Hilfsmittel namens CRISPR/Cas9 es
ermög licht, die DNA­Sequenz jedes Lebewesens –
auch des Menschen – mit nie da gewesener Präzision und
Leichtigkeit abzuwandeln. Im April 2015 berichteten
chinesische Wissenschaftler über den ersten Versuch,

Rasterelektronenmikroskopische, nachträglich ein-
gefärbte Aufnahme von menschlichen Spermien-
zellen. Im Kopf der Zelle befindet sich die DNA, der
lange, peitschenförmige Schwanz treibt sie voran.
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