Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


114 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


D


as Gesicht ist neu, die Witzchen
sind oll. Seit einigen Monaten
läuft »TV total« wieder im
Fernsehen, Gastgeber ist nicht mehr
Stefan Raab, der die Sendung erfun-
den und bis 2015 moderiert hat, son-
dern Sebastian Pufpaff. Dass da jetzt
jemand anderes steht und darüber
wiehert, dass Menschen sich im Fern-
sehen manchmal versprechen, ist
wichtig – man wüsste sonst gar nicht,
dass man ein Format aus dem Jahr
2022 schaut. Denn alles andere an
dem Aufguss von »TV total« erinnert
an die späten Neunzigerjahre, als die
Show an den Start ging. Es spielt die
gleiche Band in der gleichen Kulisse,
es wird der gleiche Sexismus gefeiert.
»Nur ein ganz kleines Stück höher,
und wir hätten Andreas Sack gese-
hen«, japste Pufpaff in einer der jün-
geren Ausgaben. Er kommentierte
einen Filmausschnitt, in dem Andrea
Berg mit langem Schlitz im Kleid auf
einer Studiocouch sitzt. Pufpaff, ein
früh ergrauter Mittvierziger, wollte
wohl suggerieren, dass es sich bei der


Schlagersängerin im Glitzerkleid um
eine trans Person handle. Es ist das
Jahr 2022, und ihm fällt beim selbst
herbeigeplapperten Thema Transgen-
der nichts anderes ein, als zu gackern:
»Ich bin ja sexuell inzwischen so ver-
wirrt. Also wenn Andrea Berg inzwi-
schen transgender ist und ich auf sie
stehe, ist sie dann eine Frau und ich
schwul, oder nicht? Ich habe selber
den Faden verloren.«
Den Faden verloren und den An-
schluss an die Gegenwart verpasst
haben inzwischen große Teile des
deutschen Privatfernsehens. Da wer-
den über Jahrzehnte eingekellerte
Konzepte und Kulissen hervorge-
kramt – und mit ihnen die Weltbilder
von einst. Die Branche sehnt sich in
eine Vergangenheit zurück, als die
Showideen simpel und die Quoten
stabil waren.
Die Fernsehmanager nehmen jetzt
vornehmlich Menschen ins Visier, die
inzwischen über 50 sind und ihre gro-
ßen TV-Momente in den frühen Ta-
gen von RTL, Sat.1 und ProSieben

Der Greis ist heiß


RETRO-FERNSEHEN RTL, ProSieben und Sat.1 bringen immer mehr Shows


aus den Achtzigern und Neunzigern zurück – und mit ihnen die


muffigen Weltbilder von einst. So verspielen die Privatsender ihre Zukunft.


hatten. Als man die Shows dort allein
schon deshalb einschaltete, weil die
bunten Kulissen und jahrmarktarti-
gen Jingles ein hedonistisches Gegen-
angebot zu den als piefig und päda-
gogisch empfundenen Angeboten der
Öffentlich-Recht lichen boten. Auf
diese Weise ist über die vergangenen
Monate ein weit verbreitetes Fern-
sehphänomen entstanden: Boomer-
T V.
Das Zielpublikum bilden jene Jahr-
gänge, die bei »stern TV« mit Günther
Jauch die Wendejahre feierten und
sich beim Krawalltalk »Der heiße
Stuhl« mit Ulrich Meyer der Illusion
hingaben, dass mit anschwellendem
Lärmpegel auch der Mehrwert der
Debatte steige. Jene Jahrgänge auch,
die daran glaubten, dass die Bügel-
station hinter Tor zwei bei »Geh aufs
Ganze!« mit Jörg Draeger ihr Leben
entschieden verbessern würde, und
die bei »Der Preis ist heiß« mit Harry
Wijn voord vom Hauptgewinn des
Balearenurlaubs träumten. Hatte man
Sorgen in jenen Tagen? Keine offen-
bar, die sich nicht bei einem kleinen
Malletrip verflüchtigt hätten.
»Der Preis ist heiß« wird nun ab


  1. Mai bei RTL für zunächst drei Aus-
    gaben neu aufgelegt. Erste Bilder le-
    gen nahe, dass Wijnvoord, 72, exakt
    das gleiche Tupperware-Vertreter-
    Lächeln trägt, das er bis zum Aus der
    Show im Jahr 1997 zeigte. Die Kan-
    didaten der Sendung müssen die Prei-
    se verschiedener Verkaufsartikel ra-
    ten, vom Scheibenkäse bis zur Hi-Fi-
    Anlage. Wer am nächsten dran ist,
    nimmt Käse oder Anlage mit heim.
    Anstelle des verstorbenen Preisansa-
    gers Walter Freiwald wird in der Neu-
    auflage Thorsten Schorn mit der dra-
    matischen Floskel »Meine Damen
    und Herren ... das Rad!« das zentra-
    le Show-Utensil ankündigen. Es ent-
    scheidet, welcher Kandidat weiter-
    kommt, und sieht noch genauso aus
    wie damals, leidet aber unter dem-
    selben Realitycheck-Effekt wie alle
    wiederbesuchten Sehenswürdigkei-
    ten und Protagonisten aus jenen ver-
    meintlich besseren Zeiten: Irgendwie
    hatte man es größer in Erinnerung.
    Sidekick Schorn war schon bei
    einer kurzlebigen Sparflammenver-
    sion der Show für RTL plus 2017 da-
    bei, Wijnvoord wurde nun erst wieder
    reaktiviert. Er hatte allerdings schon
    2010, als die Fernsehwelt noch an die
    Zukunft glaubte, erfolglos eine Peti-
    tion zur Wiederaufnahme seines Le-
    bensprojekts aufgesetzt. Was vor
    zwölf Jahren wie der Hilfeschrei ver-
    zweifelter Nostalgiker wirkte, ist heu-
    te Konsens unter den Programmver-
    antwortlichen der Privatsender.


Moderatoren
Schorn und
Wijnvoord
in »Der Preis
ist heiß«

Die diffuse
Gegenwarts­
müdigkeit
verbindet sich
mit knall­
hartem demo­
grafischen
Kalkül.

RTL+
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