Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 13

»Wir haben es mit einem imperia-
len, kolonialen Angriffskrieg zu tun«,
sagt er. Oder: »Wenn der Aggressor
siegt, werden Eroberungskriege wie-
der möglich.« Manchmal klingt Hof-
reiter dieser Tage wie Clausewitz.
Das ist die Lage in diesem Frühjahr
des Krieges: Hofreiter, der promo-
vierte Botaniker, der beim Spazieren
durch den Berliner Tiergarten sämt-
liche Pflanzen und Blumen benennen
kann, ist jetzt Hofreiter, der Waffen-
experte, der über Geschosskaliber
und Besatzungen von Schützenpan-
zern referiert. Man hat das so nicht
unbedingt kommen sehen.
Ähnlich überraschend ist die Rolle
seiner Partei, der Grünen, innerhalb
der Ampelkoalition. Auch die Partei
weigert sich, dem eigenen Klischee
zu entsprechen, ihre Rolle im politi-
schen Drehbuch erwartungsgemäß
auszufüllen.
Statt in der Regierung den pazi-
fistischen Part zu geben, statt zu
bremsen, zu verzögern, zu verhin-
dern, wenn es um schweres Kriegs-
gerät für die Ukraine geht, sind die
Grünen diejenigen, die mehr wollen
und dadurch ihre Partner unter Druck
setzen, vor allem die SPD. Und Olaf
Scholz.
Der Bundeskanzler ist nun derje-
nige, der zögerlich wirkt. Das liegt
einerseits an seinem Sound – im Ver-
gleich mit der Stahlgewitter-Rhetorik
der Grünen erinnert er dieser Tage
manchmal an einen Zivildienstleisten-

den, der mit einem Artilleriefeldwebel
diskutiert. Die Unterschiede liegen
aber andererseits auch in der Sache.
Wirtschaftsminister Robert Ha-
beck war der erste prominente deut-
sche Politiker, der Waffenlieferungen
an die Ukraine forderte, im Mai ver-
gangenen Jahres, lange vor Beginn
des russischen Angriffskriegs, damals
noch als Grünenvorsitzender. Die
eigenen Leute riefen ihn zur Ordnung,
Habeck musste zurückrudern, mitt-
lerweile liegt die Partei zu großen
Teilen auf seiner Linie. Auch Außen-
ministerin Annalena Baerbock ist
längst umgeschwenkt.
Die SPD hingegen hadert, sie wirkt
längst nicht so geschlossen wie die
Grünen. Ihr Fraktionschef Rolf Müt-
zenich und ihr Generalsekretär Kevin
Kühnert wurden von der Panzerent-
scheidung am Dienstagmorgen über-
rascht, kalt erwischt. Mal wieder.
Was ist da passiert, bei den Grü-
nen, mit den Grünen? Ihre Wurzeln
liegen in der Umweltbewegung, im
Widerstand gegen die Atomkraft,
aber eben auch in der Friedensbe-
wegung, im Widerstand gegen die
Nato-Nachrüstung in den Achtziger-
jahren – durchgesetzt damals vom
SPD-Kanzler Helmut Schmidt. Noch
1999 bekam der grüne Außenminister
Joschka Fischer beim Parteitag einen
Farbbeutel an den Kopf geworfen,
weil er die Bundeswehr in den Ko-
sovoeinsatz geführt hatte. Fischer hat-
te den Pazifismus da längst hinter sich
gelassen, große Teile der Partei waren
noch nicht so weit.
Wo sind die grünen Pazifisten ge-
blieben? Gibt es sie noch – und, wenn
ja, warum sind sie so leise? Oder war
alles immer nur ein großes Miss-
verständnis, waren die Grünen in
Wahrheit nie so friedfertig, wie man
dachte?
Und es gibt noch eine Frage, die
über die Grünen hinausgeht, über
ihre Haltung zum Krieg, zu Waffen-
lieferungen. Was bedeutet es für das
Parteiensystem, für seine Statik,
wenn eine Partei, für die Frieden und
Abrüstung bislang wichtige Ziele wa-
ren, plötzlich kaum genug Panzer und
Haubitzen schicken kann? Wer über-
nimmt dann diese Rolle?
Jemanden wie Daniel Hecken hät-
ten sie bei den Grünen früher wohl
gar nicht erst aufgenommen, mindes-
tens aber misstrauisch beäugt. He-
cken, 38, ist Offizier bei der Bundes-
wehr und Mitglied der Grünen. Mit
seinem Beruf geht er offen um, er hat
daraus sogar eine Art politisches Pro-
jekt gemacht.
Im Frühjahr vergangenen Jahres
gründete sich der Verein »Bundeswehr-

S


eine erste Erfahrung
mit dem Militär mach-
te Anton Hofreiter
im Jahr 1990. Es
war keine gute. Hof-
reiter musste zur Mus-
terung.
Sein linkes Bein ist vier Zentimeter
länger als sein rechtes, wenn er mit
geschlossenen Beinen dasteht, muss
er aufpassen, dass er nicht umkippt.
Bei der Musterung traute der Arzt sei-
nen Augen nicht. »Untauglich«, lau-
tete das Urteil, die Bundeswehr hatte
keine Verwendung für Hofreiter. Die
Truppe hat er nie von innen gesehen.
Und wenn er tauglich gewesen
wäre? Hätte er vermutlich verweigert,
sagt Hofreiter.
Das war damals. Heute würde die
Entscheidung womöglich anders aus-
fallen, jedenfalls drängt der Grünen-
Bundestagsabgeordnete und ehe-
malige Fraktionschef die Regierung
derzeit so laut und entschieden wie
sonst kaum jemand dazu, mehr und
schwerere Waffen an die Ukraine zu
liefern.
Hofreiter treibt gemeinsam mit
seiner FDP-Kollegin Marie-Agnes
Strack-Zimmermann den Bundes-
kanzler vor sich her, nervt mit Vor-
stößen, und es könnte nicht zuletzt
an ihm gelegen haben, dass Scholz in
dieser Woche nach längerem Zögern
entschied, der Ukraine Flakpanzer
vom Typ Gepard zu liefern. Panzer,
jetzt also doch.
»Da bewegt sich was in die richtige
Richtung«, sagt Hofreiter am Mitt-
wochvormittag. Er wirkt ziemlich
zufrieden, mit sich, mit der Lage. So-
fern man zufrieden sein kann, wäh-
rend ein paar Hundert Kilometer
weiter östlich der Krieg wütet.
Mit seinen langen Haaren wirkte
Hofreiter für die meisten Deutschen
bislang wie der Inbegriff eines ver-
späteten Hippies, man hätte ihn pro-
blemlos in eines der Bilder aus den
Achtzigern montieren können: die
ersten Abgeordneten der Grünen im
Bundestag, die Männer fast alle mit
langen Haaren. Allerdings trägt Hof-
reiter im Parlament keine Wollpullo-
ver, sondern Anzüge, ansonsten passt
er ins Klischee des Vollblut-Ökos.
Annalena Baerbock hat einmal ge-
sagt, sie komme »vom Völkerrecht«,
Hofreiter kommt eher aus dem Stall,
vom bayerischen Land. Er interessier-
te sich in seiner bisherigen Karriere
für Landwirtschafts- und Verkehrs-
politik und wäre gern Minister ge-
worden. Seit er im vergangenen
Herbst leer ausging, als Regierungs-
posten verteilt wurden, versucht er
sich als Außenpolitiker. Und wie.


»Wir haben
es mit
einem impe-
rialen,
kolonialen
Angriffs-
krieg
zu tun.«
Anton Hofreiter

Ex-Fraktionschef
Hofreiter: Plötzlich
referiert er über
Geschosskaliber und
Besatzungen von
Schützenpanzern

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL
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