Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 15

exporte allerdings ähnlich denkt wie sein
Minister – was in der Partei bis zur russischen
Invasion kaum jemand wusste. Hinter den
Kulissen wies Giegold seine Beamten an, An-
träge auf Waffenexporte schnell und wohl-
wollend zu bearbeiten.
Öffentlich schwieg Habeck weiter und
machte seinem Frust über die Haltung der
eigenen Partei nur intern Luft: Die Linie, man
liefere eben keine Waffen in Kriegsgebiete,
sei doch vorgeschoben, sagte er zu seinen
Vertrauten im Ministerium – was sei denn mit
den Exporten nach Ägypten, das am Krieg
im Jemen beteiligt ist?
Im Außenministerium wollte man von die-
ser Argumentation noch nichts wissen. »Es
gibt nur eine Lösung, und die heißt Diplo-
matie«, sagte Baerbock Mitte Januar im
Bundestag.
Auch Ende Januar, als die Forderung nach
Waffenlieferungen bereits lauter wurde, blieb
sie bei ihrer Ablehnung. »Seinen außenpoli-
tischen Kurs einfach mal so um 180 Grad zu
drehen, sollte man schon bei vollem Bewusst-
sein tun. Und vor allem sollte man damit nicht
Türen zur Deeskalation verschließen, die sich
gerade in diesem Moment so zaghaft wieder
öffnen«, sagte sie im Parlament. »Wer redet,
der schießt nicht.« Also: Keine Waffen für die
Ukraine, dabei sollte es bleiben.
Erst die Invasion am 24. Februar führte
zum Umdenken – wenn auch nicht sofort. Um
den Sinneswandel anzustoßen, musste Ha-
becks Ministerium Druck machen. So jeden-
falls stellt man es dort dar.
Demnach verschickte Staatssekretär Gie-
gold am Freitag nach dem russischen Ein-
marsch ein Schreiben an die beteiligten Mi-
nisterien, in dem er für Waffenlieferungen
argumentierte. Zur Begründung führte er
Artikel 51 der Uno-Charta an, wonach an-
gegriffene Staaten ein Selbstverteidigungs-
recht haben – in diesem Fall könne Deutsch-
land die Ukraine auch mit Waffen beliefern,
so Giegold. Baerbock zögerte noch, doch
schon am Samstagmorgen hatte sie ihre Mei-
nung geändert. Und zwar so fundamental,
dass man im Auswärtigen Amt staunte.
Als Erstes räumte sie den deutschen Wider-
stand gegen die Lieferung alter DDR-Haubit-
zen in die Ukraine ab, den die Regierung bis-
lang blockiert hatte. Die Artilleriegeschütze
waren vor Jahren in Estland gelandet, als
früherer Besitzer musste Deutschland die
Weitergabe genehmigen. Baerbock signali-
sierte Zustimmung, das erste Tabu war ge-
fallen. Im Laufe dieses Samstags wurde die
Außenministerin sogar zur Treiberin.
Seit dem Vormittag ließ Olaf Scholz über
seinen außenpolitischen Berater Jens Plötner
ausloten, ob die wichtigen Ministerien auch
direkte Waffenlieferungen an die Ukraine mit-
tragen würden. Gegen Mittag signalisierte
Baerbock über ihren Staatssekretär An dreas
Michaelis, sie trage das mit – und es müsse
nun schnell gehen.
Am Nachmittag, kurz vor der entscheiden-
den Sitzung von Scholz und seinem engsten


Team, setzte Michaelis nach. Seine Ministerin,
schrieb er an Plötner, wolle heute grünes Licht
für die sofortige Lieferung von 1000 Bundes-
wehr-Panzerfäusten geben, außerdem müss-
ten rasch 500 Stinger-Systeme zum Abschuss
von russischen Helikoptern geliefert werden.
Komme es in der nächsten Stunde nicht zum
Schwur, werde Baerbock selbst Scholz an-
rufen und Druck machen.
Kurz danach fiel im Kanzleramt die histo-
rische Entscheidung. Scholz beschloss mit
seinen engsten Beratern, beide Waffentypen
in die Ukraine zu liefern. Am nächsten Tag
hielt er im Bundestag seine Regierungserklä-
rung, in der er die »Zeitenwende« ausrief.
Seither wirkt Scholz wie der Getriebene.
Er mahnt zur Vorsicht, etwa mit dem Argu-
ment, Wladimir Putin könnte die Lieferung
schwerer Waffen als Teilnahme am Krieg wer-
ten – doch bei den Grünen dringt er damit
nicht durch.
Völkerrechtlich gesehen, seien Waffenlie-
ferungen kein Kriegseintritt, sagte Baerbock

an diesem Mittwoch bei der Regierungs-
befragung im Bundestag. Man müsse zwar
abwägen, dürfe aber keine Panik schüren. Da
sich der russische Präsident nicht um das Völ-
kerrecht schere, sei es auch nicht wichtig, wie
er bestimmte Entscheidungen Deutschlands
werte. »Deswegen ist das, was Herr Putin
denkt, was ein Schritt sein könnte, allein im
Ermessen dieses Präsidenten.«
Heißt übersetzt: Natürlich liefern wir –
egal womit Putin gerade wieder drohen mag.
Noch deutlicher drücken sich Grüne aus,
die keine Regierungsverantwortung tragen
und damit freier formulieren können – etwa
die ehemalige Bundestagsabgeordnete Marie-
luise Beck. Sie ist kürzlich nach Kiew gereist,
gemeinsam mit ihrem Mann Ralf Fücks, dem
ehemaligen Vorstand der Heinrich-Böll-Stif-
tung. Seither sieht sie die Dinge noch etwas
klarer als vorher.
Man müsse der ukrainischen Armee
»schnell so viele Waffen wie möglich« liefern,
sagt Beck. »Die Ukraine müsste idealerweise

Grüne Spitze


Zufriedenheit mit den Bundesministerinnen und -ministern und Ranking, Monatsdurchschnitte

* Daten bis zur Rücktrittsverkündigung am 11. April
S◆Quelle: Civey; jüngste Auswertung: 27. April, Befragte: je mindestens 5000; statistischer Fehler: 2,5 Prozentpunkte

Paus

Lauterbach

Habeck

Baerbock

Lauterbach

Heil

Scholz

Lindner

Faeser
Buschmann
Lambrecht
Wissing
Schulze

Geywitz
Stark-Watzinger

Lemke
Spiegel*

Özdemir

Heil

Scholz

Özdemir

Habeck

Lindner

Baerbock

Lemke
Spiegel*
Schulze
Geywitz
Stark-Watzinger
Januar
2022 Februar März April

Faeser
Buschmann
Lambrecht
Wissing

Die Breite der Linien bildet die
Zufriedenheit ab; je höher die
Zufriedenheit je Kabinetts-
mitglied, desto breiter die
Linie.

SPD Die Stapelung zeigt
FDP das Ranking.
Grüne

eher zufrieden/
sehr zufrieden

eher zufrieden/
sehr zufrieden

Der Kanzler verhält sich beim Thema
Waffenlieferungen an die Ukraine
zögerlich und gerät in die Kritik. Er
stürzt im Schnitt auf 33 Prozent.

In seiner Rolle als Wirtschafts-
minister agiert Robert Habeck als
Krisenmanager, im April zeigen sich
durchschnittlich 51 Prozent der
Befragten mit seiner Arbeit eher
oder sehr zufrieden.

Die Außenministerin ist in der Krise
sehr präsent, mit durchschnittlich
49 Prozent ist sie derzeit das zweit-
beliebteste Kabinettsmitglied.
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