WIRTSCHAFT
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 59
aufgehen, braucht es bis zu 1,8 Mil
lionen Tonnen Kupfer, 95 Millionen
Tonnen Zement und 30 Millionen
Tonnen Stahl. Die Zahlen hat die
Berliner Denkfabrik Agora Energie
wende, die auch die Bundesregie
rung berät, im Auftrag des SPIEGEL
ermittelt.
Für den Ökostromsektor verheißt
das nichts Gutes. Denn die Rohstoff
preise steigen stark. Die Tonne Kup
fer kostet aktuell doppelt so viel wie
vor zwei Jahren, Stahl sogar fast das
Dreifache. Tendenz: steigend. Denn
Pandemie und Ukrainekrieg stören
die internationalen Lieferketten, hin
zu kommt ein globaler Nachfrage
boom, weil auch andere Staaten ver
stärkt auf Ökostrom setzen.
In der Windenergiebranche schla
gen die Preiskapriolen unmittelbar
durch. Viele Hersteller haben soge
nannte Gleitklauseln in ihren Liefer
verträgen: Steigen die Rohstoff
kosten, ziehen auch die Preise der
Anlagen an – und zwar beträchtlich.
Der Turm für ein großes Windrad
habe sich aufgrund des Stahlpreises
um rund eine Million Euro verteuert,
sagt Hermann Albers, Präsident des
Bundesverbands Windenergie. Je
nach Modell entspricht das einem
Preisschub von 20 bis 25 Prozent.
»Viele Abnehmer, vor allem kleine
Bürgerenergiegesellschaften, können
ein solches Risiko nicht tragen«, sagt
EnerconMann Vohrer. »Das führt zu
der paradoxen Situation, dass die
Aufträge für Windräder gerade zu
rückgehen – neue Klimaziele hin oder
her.« Sollten die Bestellungen wieder
anziehen, dauere es rund ein Jahr, bis
die Anlagen produziert und geliefert
seien. Das reißt Lücken in Habecks
Turboplan.
Das Ministerium will das Problem
mit Ausfallbürgschaften lösen. Platzt
ein Bauprojekt, könnte der Staat die
Windräder erst einmal übernehmen
und sie anschließend an einen ande
ren Projektierer weiterreichen. »Die
Anlagenbauer könnten so drauflos
produzieren. Sie müssten sich keine
Sorgen machen, auf ihren Windrä
dern sitzen zu bleiben«, sagt Habecks
Staatssekretär Oliver Krischer.
Wenn das mit dem Drauflospro
duzieren mal so einfach wäre.
Glühend rot, kochend heiß: Das
flüssige Metall in der Krefelder Gie
ßerei Siempelkamp sieht aus wie
Lava. 40 Tonnen geschmolzenes
Eisen mit Kugelgrafit brodeln in einer
sogenannten Pfanne, dann ergießt
sich die Schmelze in eine meterlange
Form im Boden.
Siempelkamp hat lange Großkom
ponenten für Windkraftanlagen ge
gossen, tonnenschwere Naben etwa,
an denen die Rotorblätter der Mühlen
hängen. Mehr als 2000 Windräder
stattete die Gießerei aus, als einer der
wenigen Lieferanten auf dem Welt
markt. Dann kam die AltmaierDelle.
Der deutsche Windkraftmarkt
brach ein, die Aufträge für Spezial
gießereien schwanden. Siempelkamp
überlebte nur, weil es sich umstellte.
2017 goss das Unternehmen die letz
te Nabe. Seitdem fertigt die Firma
unter anderem Castorbehälter für die
Atomindustrie.
Nun, da Berlin große Ausbauziele
verkündet, könnte Siempelkamp wie
der ins Windgeschäft einsteigen. Doch
die Firma zögert. »Wir sind gebrann
te Kinder«, sagt Geschäftsführer
Georg Geier.
Neulich hat er sich mit seinem Co
Geschäftsführer über Habecks Oster
paket gebeugt. Fazit: »Das ist ein
frommer Wunsch.« Allein um die
Windziele zu schaffen, müssten bis
zu 350 000 Tonnen Großkomponen
ten pro Jahr gegossen werden. In
Deutschland gebe es überhaupt nur
fünf Betriebe, die dafür infrage kä
men. Deren Gesamtkapazität sei
nicht einmal halb so hoch und größ
tenteils ausgebucht. Auch im Ausland
seien die Kapazitäten knapp. »Die
Branche stand jahrelang unter Druck«,
sagt Thorsten Lenck vom Thinktank
Agora. Nun rächt sich das.
Die Wenigen, die hierzulande
noch Teile für Windräder fertigen,
die heimische Ökostromindustrie
über Jahre heruntergewirtschaftet.
Branchenpioniere wanderten aus
oder mussten Insolvenz anmelden.
Allein in der Windkraftbranche gin
gen circa 60 000 Jobs verloren, im
Solarsektor ist nur noch ein Drittel
der einst rund 157 000 Stellen übrig.
»PeterAltmaierDelle« nennt man
das spöttisch in der Branche, in An
lehnung an Habecks Amtsvorgänger.
Der Preis sind noch größere Ab
hängigkeiten als beim russischen Gas:
In der Windbranche kommen Roh
stoffe und Teile immer öfter aus Chi
na, auf dem Solarmarkt stammen in
zwischen drei von vier Modulen aus
der Volksrepublik. Während Habeck
die Erneuerbaren als Lösung für mehr
Energieautonomie preist, kalkulieren
seine Leute längst neue Ausfallszena
rien: Was, wenn China in Taiwan ein
marschiert? Beschränkt dann erneut
eine Abhängigkeit den außenpoliti
schen Spielraum?
Auch die Engpässe, die aus geris
senen Lieferketten resultieren, sind
bereits spürbar. 2021 wurde rund ein
Fünftel der geplanten Solarprojekte
in der EU verschoben oder verwor
fen. Ein wichtiger Grund waren laut
EUKommission »Ereignisse in Chi
na«, darunter Fabrikschließungen
oder Logistikprobleme wie gesperrte
Häfen.
In Berlin will man die heimische
Ökostromindustrie deshalb wieder
hochpäppeln. Und das so schnell wie
möglich. Am 11. April bestellten Ha
beck und zwei seiner Staatssekretäre
28 Branchenvertreter zum virtuellen
Gipfel ein. »Selbst wenn wir die best
möglichen Gesetze erlassen, ist in
Deutschland noch kein einziges Wind
rad gebaut«, konstatierte der Minis
ter nach der rund zweistündigen Sit
zung. Die Erneuerbarenbranche müs
se endlich eine funktionierende
Indus triepolitik bekommen.
Die Branche begrüßt den Sinnes
wandel, bleibt aber skeptisch. »Bun
te Balkendiagramme sind noch keine
Hilfe für deutsche Produktionskapa
zitäten«, lästert Philipp Vohrer, Chef
lobbyist beim angeschlagenen Wind
anlagenbauer Enercon. Es fehle an
»technischer und ökonomischer Sou
veränität« auf fast allen Ebenen, klagt
Robert Busch, Chef des Bundesver
bands Neue Energiewirtschaft. Der
Umweltökonom Felix Matthes spricht
von »Trägheiten« im System, die es
nun zu beseitigen gelte. Doch längst
nicht alle können die Ministerialen
überhaupt steuern. Selbst wenn der
Wille da ist.
Die deutsche Energiewende ist ma
terialintensiv. Damit Habecks Pläne
Ausbaufähig
Anteil Erneuerbarer
an der Stomerzeu-
gung ausgewählter
Länder in der EU 2020,
in Prozent
S◆Quelle: Eurostat
Österreich
Schweden
Dänemark
Deutschland
Italien
Frankreich
Polen
78,2
74,5
65,3
44,7
38,1
24,8
16,2
Malta
9,5
Lockdown-Kontrolle
in Shanghai, Solar -
zellen von Oxford PV:
Die Engpässe sind
überall spürbar
Hector Retamal / AFP
Luca Abbiento / Oxford PV