Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 111

Westernhagen: Sehr vorsichtig. Ich
habe mir vor drei Jahren in New York
eine Virusinfektion geholt, eine Art
Influenza, und bekam eine schwere,
beidseitige Lungenentzündung. Des-
halb lag ich zwölf Tage in der Charité.
Plötzlich fühlte ich mich wie 100 und
musste gestützt werden, um aufs Klo
zu gehen. Das war nicht lustig.
SPIEGEL: Hatten Sie Angst?
Westernhagen: Ich habe keine Angst
zu sterben, dafür habe ich mich viel
zu viel mit dem Tod beschäftigt. Ich
habe eher vor Krankheit Angst,
und deshalb hatte ich natürlich auch
Respekt vor Corona. Ich habe es
dann später tatsächlich zweimal be-


kommen, aber zum Glück gut über-
standen.
SPIEGEL: Waren Sie in Deutschland,
als die Pandemie ausbrach?
Westernhagen: Nein, ich war mit mei-
ner Frau Lindi in Kapstadt in Südaf-
rika. Wir verbringen dort oft den
Winter, so hatten wir das auch 2019
geplant. Als dann die Pandemie aus-
brach, war die Panik natürlich groß.
Das eigentlich Schlimmste für mich
war: Man durfte keinen Wein kaufen.
Und auf dem Schwarzmarkt gab es
nur fürchterliches Gesöff. Aber:
Ich konnte von dort aus sehr gut
arbeiten. Wenn man Corona irgend-
etwas abgewinnen kann, dann, dass

ich Zeit hatte, mal wieder nach innen
zu gehen.
SPIEGEL: Was haben Sie dort ge-
funden?
Westernhagen: Viel. Ich habe ge-
merkt, dass ich wieder bereit bin mit-
zumischen und auch was zu sagen
habe. Ich habe angefangen, Texte zu
schreiben, als Erstes den Song »Ach-
terbahngedanken«. Und ich habe
festgestellt, dass mich alles Materiel-
le nicht mehr interessiert. Ich wollte
tiefer gehen, tiefer graben.
SPIEGEL: Und zu welchem Ergebnis
sind Sie gekommen?
Westernhagen: Dass viele Menschen
unsere Gesellschaft nicht mehr ver-
stehen und dass wir in einer Zeit le-
ben, in der wir alle wegen der digitalen
Revolution vollkommen überfordert
sind. Wir bekommen alle mehr Infor-
mationen, als wir überhaupt verarbei-
ten können. Wir sind in einer Zeit des
ständigen Zitierens gefangen. Es gibt
kaum noch Menschen, die in der Lage
sind, eigene Gedanken zu entwickeln
und zu formulieren. Zudem haben wir
mit den sozialen Medien eine rechts-
freie Zone geschaffen, die meiner Mei-
nung nach direkt ins Chaos führt.
SPIEGEL: Klingt arg pessimistisch.
Westernhagen: Das ist es auch. Ob-
wohl ich ein Kämpfer bin. Ich bin
jemand, der fünf Minuten vor Ende
eines Fußballspiels immer noch
denkt: Komm, das drehen wir. Des-
halb mache ich das ja auch alles.
SPIEGEL: Aber was genau wollen Sie?
Westernhagen: Dass wir alle uns
wieder auf ein moralisch-demokra-
tisches Dach besinnen und dass es
nicht immer nur um Gier und Turbo-
kapitalismus geht. Sondern darum,
wie wir jetzt und in Zukunft leben
wollen. Ich für meinen Teil möchte in
Frieden leben und in einer Demo-
kratie. Ich bin Künstler: Wir sind die
Eulenspiegel am Hofe. Wir sind die
Idioten, die die Wahrheit sagen soll-
ten und müssen.
SPIEGEL: Die eine Wahrheit gibt es
doch überhaupt nicht.
Westernhagen: Ich versuche das, was
ich für wahr halte und was ich beob-
achte, einfach zu sagen. Ohne Angst
davor, später als meckernder Opa
dazustehen.
SPIEGEL: In »Zeitgeist« schießen
Sie unter anderem gegen die Karda-
shians und Heidi Klum.
Westernhagen: Ich habe persönlich
überhaupt nichts gegen die Figuren,
die in meinem Video auftauchen.
Aber ich habe etwas gegen das, wofür
sie stehen. Und was mich an den Kar-
dashians einfach ärgert, ist, dass sie
Millionen jungen Frauen vorgelebt
haben, man müsste nichts machen im

Künstler Müller-
Westernhagen:
»Take it or leave it«

Olaf Heine / Sony Music
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