Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

TITEL


14 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.


gemeinen Mobilmachung politische
Risiken eingeht. Dann kann er den
Sieg nicht nach seinen Vorstellungen
definieren, und der Krieg muss maxi­
male Ziele verfolgen. Es könnte dann
also nicht nur ein Feldzug zur Erobe­
rung des Donbass sein.
SPIEGEL: Wie lange können die russi­
schen Streitkräfte diesen Krieg durch­
halten, wenn es keine Mobilmachung
gibt?
Kofman: Ohne nationale Mobilma­
chung wird Russlands Angriffspoten­
zial mit dem Feldzug im Donbass auf­
gebraucht sein. Es spielt keine Rolle,
ob die Operation erfolgreich ist oder
nicht – aber so, wie die Dinge stehen,
wird dies die letzte große Offensive
der Russen sein.
SPIEGEL: Es war zuletzt in Deutsch­
land viel von der Sorge die Rede, dass
Russland seine Atomwaffen ein­
setzen könnte. Halten Sie das für
möglich?
Kofman: Es ist vorstellbar, dass die
russische Führung so unter Druck
gerät, dass sie eine Atomwaffe zu
Demonstrationszwecken einsetzt –
und dann damit droht, eine Atom­
waffe gegen die Ukraine einzusetzen.
Aber das sind Szenarien mit geringer
Wahrscheinlichkeit, ich möchte sie
deshalb nicht zu sehr thematisieren
und Ängste schüren.
SPIEGEL: Falls Putin den Kriegszu­
stand ausruft: Welche zusätzlichen
Streitkräfte könnte er dann zusam­
menziehen?
Kofman: Die russische Führung hätte
Zugang zu viel mehr Männern. Und
sie könnte die aktuell Wehrpflichtigen
im Dienst behalten. Russland verfügt
über ein großes Reservoir an Perso­
nen mit militärischer Erfahrung, die
bis vor Kurzem als Vertragssoldaten
oder als Wehrpflichtige gedient ha­
ben. Aber es würde Wochen bis Mo­
nate dauern, sie einzusetzen.
SPIEGEL: Könnte das den Kriegs­
verlauf für Russland zum Positiven
wenden?
Kofman: Das ist höchst fraglich. Es
würde Russland allerdings ermögli­
chen, den Krieg länger fortzusetzen
und in einen noch viel blutigeren Zer­
mürbungskrieg zu verwandeln.
SPIEGEL: Welchen Einfluss hat die Hil­
fe aus dem Westen auf diesen Kampf?
Kofman: Selbst in einem Zermür­
bungskrieg würden sich die russi­
schen Streitkräfte wohl erschöpfen,
wenn die Ukraine weiterhin Ausrüs­
tung aus westlichen Ländern erhält.
Russland kämpft letztlich gegen die
Ukraine und eine Menge westlicher
Länder, die es unterstützen.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass die ukra­
inischen Streitkräfte bedeutende Ge­ Interview: Fritz Schaap n


Gebiete prorussi-
scher Separatisten
und von Russland
annektierte Krim

Festgefahrene
Offensive

Militärische Stärke
vor der Invasion
der Ukraine
Ukraine Russland
aktive Soldaten
197.000 900.

Schützenpanzer
1305 6570
Artilleriegeschütze
1960 6000
Kampfpanzer
987 3417
Kampfflugzeuge
124 1476
Hubschrauber
114 948
große Kriegsschiffe
1 32

Reservisten
900.000 2.000.

Vormarsch der
russischen Armee

. März

Russische Invasion
in der Ukraine

S◆Quellen: Military Balance;
Institute for the Study of War
and Critical Threats Project

200 km

Kiew

Kiew

­. Mai

Saporischschja

Krim

biete im Osten und Süden zurück­
erobern können?
Kofman: Ja.
SPIEGEL: Hat das russische Militär
gezeigt, dass es der Nato nicht ge­
wachsen ist?
Kofman: Militärische Macht existiert
nicht abstrakt. Die militärische Leis­
tungsfähigkeit ist oft an das jeweilige
Szenario gebunden. Wir können jetzt
wertvolle Lehren für den möglichen
Verlauf eines Krieges zwischen Russ­
land und der Nato ziehen, aber wir
müssen aufpassen: Die Nato ist Russ­
land konventionell überlegen. Das
russische Militär würde sich jedoch
im Fall eines solchen Konflikts zwei­
fellos anders organisieren. Das heißt
nicht, dass es besser abschneiden
würde, aber es wäre ein anderer
Kampf. Die Sowjetunion hat im Win­
terkrieg 1939/40 gegen Finnland
schlecht abgeschnitten. Nazideutsch­
land hat damals aus diesem Krieg die
falschen Lehren gezogen und ge­
glaubt, dass die Rote Armee trotz
ihrer Größe leicht zu schlagen wäre.
Das zeigt, warum der Kontext so
wichtig ist.
SPIEGEL: Auch im Georgienkrieg
2008 gab es Probleme. Nach dem
Krieg wurde eine große Militärreform
begonnen – war sie ein Misserfolg?
Kofman: Sie hat das russische Militär
stark modernisiert, nur ist der Pro­
zess nicht abgeschlossen. Es gibt Be­
reiche, in denen die russischen Streit­
kräfte technologisch rückständig
sind, das ist klar. Die Reformen haben
aber vor allem dabei versagt, die
Qualität der Streitkräfte zu verbes­
sern, die Ausbildung, die militärische
Kultur – und die Art und Weise, wie
das russische Militär auf taktischer
Ebene befiehlt und kontrolliert. Ihre
Kommandostruktur konzentriert
die Entscheidungen auf den Offizier,
damit hält sie die Truppe taktisch
starr – sodass auf den unteren Ebe­
nen wenig Raum für Eigeninitiative
bleibt. Ähnlich wie in der Sowjet­
union investierte das Militär in die
Beschaffung von mehr Ausrüstung
und den Aufbau größerer Streitkräf­
te – und die Reformer schenkten den
Grundlagen wie Instandhaltung,
Wartung und Logistik nicht genügend
Aufmerksamkeit.
SPIEGEL: Hat man nicht damit gerech­
net, dass die Armee einen solchen
Krieg führen müsste?
Kofman: Das Militär wurde für eine
Reihe von Kriegen aufgestellt, aber
hauptsächlich auf einen Krieg mit der
Nato ausgerichtet – und nicht darauf,
strategische Bodenoffensiven durch­
zuführen oder große Gebiete zu hal­
ten. So etwas wurde als Planungs­

relikt des Kalten Krieges betrachtet.
Die Generalität ging davon aus, dass
man sich auf den Einsatz von Feuer­
kraft und präzisionsgelenkten Waffen
konzentrieren und hoch mobile Ein­
heiten einsetzen würde – aber da sie
keine großen Bodenoffensiven plante,
keine langen Frontlinien halten woll­
te, reduzierte sie die Zahl der Infan­
teriesoldaten.
SPIEGEL: Soldaten, die ihnen jetzt
fehlen.
Kofman: Genau.
SPIEGEL: Waren Sie überrascht, dass
im Ukrainefeldzug so viel russische
Ausrüstung kaputt ging?
Kofman: Ein Großteil der Ausrüstung
ist modernisiert, aber immer noch
ziemlich alt. Sie haben eine Menge
alter Fahrzeuge und Ausrüstung. Und
es gab unzureichende Investitionen
in Erhaltung und Wartung der Streit­
kräfte.
SPIEGEL: Die Russen haben im ver­
gangenen Jahrzehnt erfolgreich meh­
rere Kriege geführt, insbesondere in
Syrien. Wie passt das zusammen?
Kofman: Viele Militärs können nicht
in größerem Maßstab umsetzen, was
ihnen in kleineren Schlachten gelingt.
Die russischen Militärs tun sich
schwer damit, jene Dinge zu skalie­
ren, die man etwa in Syrien durch­
geführt hat: Was sie mit einem Dut­
zend BTG erreichen konnten, schaf­
fen sie mit 130 BTG nicht. Das liegt
auch daran, dass sie so etwas seit der
sowjetischen Invasion in der Tsche­
choslowakei nicht mehr versucht
haben. Im Vergleich zu diesem Krieg
war der sowjetische Krieg in Afgha­
nistan ein viel einfacheres Unter­
fangen.
SPIEGEL: Wie lange sehen Sie das rus­
sische Militär nach diesem Feldzug
geschwächt?
Kofman: Wie schnell sich das russi­
sche Militär nach diesem Krieg er­
holt, hängt von vielen Variablen
ab. Von den Auswirkungen der
Sanktionen bis hin zum weiteren
Verlauf der Kämpfe in der Ukraine.
Vor allem wird Russland aus diesem
Misserfolg wahrscheinlich eine Men­
ge über groß angelegte Operationen
lernen und Anpassungen vorneh­
men. Es wäre falsch anzunehmen,
dass die russische Militärmacht nun
für einen längeren Zeitraum außer
Gefecht gesetzt ist. Russland könnte
seine militärischen Fähig keiten
schneller wiederherstellen als erwar­
tet. Es wäre ein strategischer Fehler,
Russland zum jetzigen Zeitpunkt
abzuschreiben. Das hat man schon
früher getan, aber nie mit guten
Ergebnissen.
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