Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 15
KRIEG IN DER UKRAINE
Der Hightech-Bluff
Russlands modernste Waffen spielen in diesem Krieg kaum eine Rolle. Denn die Hersteller
schaffen es nicht, die Geräte in großen Stückzahlen zu bauen – und für viele brauchen sie Teile
aus dem Westen.
Im März schlug in den Hügeln der West-
ukraine eine russische Rakete ein. Es war
dem Verteidigungsministerium in Moskau
eine eigene Nachricht wert. Nicht weil
das Ziel besonders bedeutend gewesen
wäre. Die eingesetzte Waffe war die Nach-
richt: eine neuartige Hyperschallrakete.
Noch nie war solch ein Geschoss in einem
Konflikt eingesetzt worden.
Nach Angaben des russischen Vertei-
digungsministeriums wurde das Ziel,
ein ukrainisches Munitionsdepot, mit
einer Kinschal-Rakete beschossen, die von
ei nem Kampfflugzeug gestartet wurde.
Wie so oft im Krieg lassen sich nicht alle
Details überprüfen, immer hin konnten
die USA den Flug der acht Meter langen
Rakete in Echtzeit verfolgen.
Russland hätte das Depot in den An-
höhen von Deljatyn auch mit bewährten
Waffen angreifen können, etwa mit
Marschflugkörpern. Wladimir Putins Mili-
tärs aber entschieden sich für den ersten
Einsatz der neuesten Technik und ließen
die Kinschal (»Dolch«) fliegen. Es war vor
allem eine Botschaft
an den Westen: Seht her, die Rakete funk-
tioniert – und könnte auch euch treffen.
Um die Jahrtausendwende startete
Russland ein großes Modernisierungspro-
gramm der Armee. Seitdem beobachten
Sicherheitsexperten und -expertinnen ge-
spannt, wie die Führung eine Innovation
nach der anderen ankündigt: Superpanzer,
Tarnkappenbomber, Hightech-Funkgeräte
- und ebenjene superschnellen und wen-
digen Hyperschallwaffen, die einer Rake-
tenabwehr entgehen können sollen. Zu
Beginn des Krieges waren westliche Ex-
perten in großer Sorge, dass Russland mit
diesen Überwaffen den Konflikt schnell
für sich entscheiden könnte. Doch die Ge-
räte sind bisher wenig mehr als ein Bluff
und für den Krieg kaum relevant.
Die Gründe sind vielfältig, dazu gehö-
ren die Kosten. »Westliche Unternehmen
schneiden unter anderem aufgrund größe-
rer Konkurrenz bei den Kosten für neue
Entwicklungen in der Regel besser ab«,
sagt Christian Mölling, Forschungsdirek-
tor der Deutschen Gesellschaft für Aus-
wärtige Politik. Der russische Rüstungs-
apparat sei wohl, gemessen an seiner In-
novationskraft, arg teuer.
Das zeigte sich auch bei Russlands mo-
dernstem Kampfpanzer, dem T-14. Die
vermeintliche Wunderwaffe wurde bisher
nur vereinzelt in Militärparaden präsen-
tiert. »Die Kosten für das Projekt sind ex-
plodiert, Russland hat große Probleme,
den T-14 in Serie zu produzieren – auch
weil dafür viele Spezialmaterialien und
Subkomponenten aus dem Westen ver-
wendet werden, die jetzt nicht mehr ver-
fügbar sind«, sagt der Militärexperte
Gustav Gressel vom European Council on
Foreign Relations in Berlin.
Es mag auch an den Ansprüchen gele-
gen haben. Bislang waren russische Pan-
zer meist günstige Massenprodukte, der
T-14 sollte Hightech werden. Für die Crew
so sicher wie die westliche Konkurrenz
und technisch dem deutschen Leopard 2
oder dem US-amerikanischen M1 Abrams
mindestens ebenbürtig. Angesichts Hun-
derter zerstörter T-72- und T-80-Modelle
in der Ukraine wäre ein Einsatz des T-
aus russischer Sicht enorm wichtig. Doch
bisher ist der Panzer über die Testphase
offenbar nicht hinausgekommen.
Ähnlich sieht es bei anderen vermeint-
lichen Wunderwaffen aus, etwa dem
Tarnkappenjagdbomber Suchoi Su-57.
Angeblich ist die Maschine amerikani-
schen Stealth-Jets wie der F-22 und der
F-35 überlegen. Doch nachdem die erste
Serienmaschine beim Abnahmetest ab-
gestürzt war, verzögerte sich das Projekt.
Derzeit besitzt die Luftwaffe wohl nur
drei der Kampfflieger, in Dienst gestellt
sind sie trotz Testeinsätzen in Syrien
wohl noch nicht. Der Preis ist mit mehr
als 30 Millionen Dollar pro Maschine für
russische Verhältnisse sehr hoch.
Russland ist bei der Konstruktion neuer
Waffen in vielen Fällen von westlicher
Technik abhängig. Und seit der Annexion
der Krim treffen die Sanktionen auch
die Rüstungsindustrie. »Diesen Effekt be-
obachten wir schon länger«, sagt Mölling.
Etwa bei einem verhält nis mäßig neuen
Marschflugkörper.
Im April hatten zwei Analysten vom
Royal United Services Institute for
Defence and Security Studies in London
einen in der Ukraine abgestürzten
Marschflugkörper untersucht. Der Blind-
gänger offenbarte, dass von sieben
Spezialteilen im Computer des Geräts
sechs aus den USA stammten. Auch
im modernen russischen Flugabwehr-
system Tor-M2 steckt ein Oszillator briti-
scher Bauart zur Radarsteuerung.
Selbst in russischen Funkgeräten fan-
den Spezialisten wichtige Komponenten
aus dem Westen. Nun hat Russland einen
Expertenausschuss ein gesetzt, der Wege
finden soll, auf denen man nun trotz der
Sanktionen an High tech-Nachschub kom-
men könnte.
In dieser Situation war es Putin kürz-
lich offenbar wichtig, eine weitere Bot-
schaft zu senden. Als die neue Interkonti-
nentalrakete Sarmat im April planmäßig
zu einem Testflug abhob, nutzte Russ-
lands Präsident dies wie gewohnt, um
Drohungen gegen den Westen auszuspre-
chen. Dabei betonte er, Russland könne
alle Teile des Systems selbst herstellen.
Jörg Römer n
Die Rohrkrepierer
Suchoi Su-57 (Modell): Absturz beim Test
T-14 Panzer: Vermeintliche Wunderwaffe
Kampfjet mit Kinschal: Verfolgt in Echtzeit
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Sergei Savostyanov / ITAR-TASS / IMAGO
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