Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

TITEL


18 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.


H


auptmann Oleksandr Staryna
nimmt die rechte Hand vom
Schaltknüppel und zeigt nach
vorn. Ein kleiner Ort erhebt sich
über der ostukrainischen Steppe:
zwei goldene Kirchtürme, ein paar
Sowjetbauten, niedrige Einfamilien-
häuser. »Da«, sagt Staryna. »Das ist
Marjinka.«
Er steuert den Geländewagen,
einen alten Lada Niva, zum Ortsein-
gang, vorbei an einem Autowrack,
das im Straßengraben liegt. Zwei
Rentner hatten versucht zu fliehen.
Dann traf sie eine russische Rakete.
Neben dem Hauptmann sitzt
Unteroffizier Mykola Dawydenko.
Mit einer Hand umklammert er den
Lauf seines Sturmgewehrs, Modell
Vulkan, einheimische Produktion.
Die beiden ukrainischen Elitesoldaten
fahren zu ihrer Stellung in der um-
kämpften Kleinstadt. Mit jedem
Stück Strecke nimmt die Zerstörung
zu. Geschosse haben Dächer einge-
rissen, Schlafzimmer zerfetzt, Autos
abgefackelt.
In einem kleinen Innenhof stellt
Staryna den Lada ab. Die Soldaten
wechseln regelmäßig die Autos. Für
den Nahkampf ziehen sie leichte,
wendige Wagen vor. Gepanzerte
Fahrzeuge, erklärt der Hauptmann,
taugten in Marjinka nichts.
Die Gemeinde nahe der Großstadt
Donezk ist schon zum zweiten Mal
Schauplatz von Gefechten, die über
die Zukunft der Ukraine entscheiden
dürften. Vor acht Jahren begann hier,
im Donbass, dem Kohlerevier im
Osten des Landes, der Krieg zwischen
prorussischen Separatisten und Regie-
rungstruppen. Nach hef tigen Kämp-
fen brachte die ukrainische Armee
Marjinka im Juni 2015 wieder unter
ihre Kontrolle. Seitdem verläuft die
Front am öst lichen Ortsrand.
Bis zum 24. Februar dieses Jahres
unterstützte Russland mehr oder min-
der verdeckt die Separatisten. Dann
begann es seinen Angriffskrieg gegen
die gesamte Ukraine. Seitdem kämp-
fen russische Soldaten offen an der


Seite der Truppen aus der sogenann-
ten Volksrepublik Donezk, dem mos-
kautreuen Pseudostaat. Nach dem
Scheitern des Sturms auf Kiew hat die
russische Führung die zweite Phase
ihrer »Sonderoperation« ausgerufen,
mit dem Ziel, die Regionen Donezk
und Luhansk vollständig unter ihre
Herrschaft zu bringen.
In der Schlacht um den Donbass
stehen ihnen einige der erfahrensten
Kämpfer der ukrainischen Streit-
kräfte gegenüber. Etwa 100 von ih-
nen gehören der zweiten Kompanie
des 74. Aufklärungsbataillons an,
unter dem Befehl von Hauptmann
Staryna.
Der 41-Jährige mit dem Kampf-
namen »Staryj«, der Alte, trägt einen
Armeeschlapphut über seinen schwar-
zen Haaren und eine zu kleine Schutz-
weste. Er hört genau zu, schaltet
schnell, wirkt hoch konzentriert und
entspannt zugleich.

Starynas Mission


UKRAINE Mit einer Großoffensive will die russische Armee den Donbass


überrollen. Doch bislang scheitert sie an Kämpfern, die sich etwa im Dorf


Marjinka eingegraben haben. Von Alexander Sarovic und Emre Caylak (Fotos)


UKRAINE

RUSSLAND

REGION
LUHANSK

REGION
DONEZK

D O

N

B

A

S

S

Kampf um den Donbass


S◆Quelle: Institute for the Study of War and Critical Threats Project; Stand: 4. Mai

Vormarsch russischer Truppen
russ. Zugewinne seit 25. März russ. Verluste seit 25. März

Kurachowe
Marjinka

Charkiw

Dnipro Luhansk

Donezk

Pisky Awdijiwka

Gebiete
prorussischer
Separatisten

Saporischschja

Š‹ km Mariupol

Hauptmann Staryna
bei der Fahrt aus
Marjinka:
»Sie sind erschöpft,
wir sind erschöpft«

Zivilisten im
Krankenhaus:
»Es ist mein Land, ich
bin hier geboren«

Aufklärer Dawy­
denko, Staryna:
Die Russen haben »an
Schwung verloren«

Staryna kommandiert Späher in
drei Kampfgebieten an der Front im
Süddonbass: Pisky, Awdijiwka und
Marjinka. Sie kundschaften die Posi-
tionen der feindlichen Infanterie und
Artillerie aus, mit Drohnen ebenso
wie bei Fußpatrouillen. Seit Beginn
der zweiten Kriegsphase vor bald
drei Wochen sei das Artilleriefeuer
der Russen heftiger geworden, sagt
Staryna. Marjinka wird inzwischen
fast pausenlos beschossen.
300 Grad-Raketen würden pro
Tag einschlagen, sagt der Chef der
Bezirksverwaltung. Feindliche Droh-
nen schweben, bisweilen gut sichtbar,
über dem Ort. Es gibt kaum eine Stra-
ße ohne Krater, Raketenteile ragen
aus Erdlöchern heraus. In manchen
Ruinen glimmen Feuer. Nur die we-
nigsten freiwilligen Helfer trauen sich
noch in das Städtchen.
Die Kämpfe seien heftig, sagt
Hauptmann Staryna. Die Lage sei ernst
für ihn und seine Männer. Die russi-
schen Truppen und ihre Verbündeten
haben vier Häuserblocks im Ort ein-
genommen. Allein in der vergangenen
Woche wurden sieben Soldaten seiner
Einheit verwundet. Auch an diesem
Tag musste er gemeinsam mit Unter-
offizier Dawydenko einen verletzten
Kämpfer aus Marjinka evakuieren.
Und doch wirkt der Kommandant
zuversichtlich. Zwar ist auch an die-
sem Sonntag Anfang Mai Artillerie-
feuer in Marjinka zu hören, steigt
Rauch über dem Ort auf. Doch ver-
glichen mit den vergangenen Tagen
und Wochen ist es einigermaßen
ruhig.
Die russischen Angreifer, findet Sta-
ryna, hätten »an Schwung verloren«.
Viele seien tot oder verwundet. »Wir
sehen das mit unseren Drohnen oder
hören es in den Funksprüchen, die wir
abfangen.« Vor allem aber hätten die
ukrainischen Verteidiger viel russisches
Gerät zerstört. »Ich will nicht prahlen«,
sagt er. »Aber zuletzt verging kaum ein
Tag, an dem wir nicht eine feindliche
Artilleriestellung zerstört hätten.«
Staryna und Dawydenko bewegen
sich entlang einer Mauer zu ihrer
Position, einem Verwaltungsgebäude,
das die ukrainischen Verteidiger zu
Beginn des Kriegs vor gut zwei Mo-
naten bezogen haben. Auf der ande-
ren Straßenseite haben die Angreifer
ein Haus abgefackelt, mit einer
Brandbombe, sagen die ukrainischen
Soldaten. Angekokeltes Wellblech
liegt auf dem Grundstück, Holzbal-
ken ragen aus dem Schutt nach oben.
In einem Raum mit Holzboden
und einer Stoffcouch haben die
ukrainischen Verteidiger ihre Stellung
bezogen. Wenig Licht dringt nach
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