TITEL
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 17
Russland hat zwei Anläufe gebraucht, um
seine Autoindustrie zu retten. Erst scheiterte
der Plan, aus dem maroden Lada-Konzern
einen nationalen Champion zu formen. Das
Werk in Toljatti ist eine Ausgeburt sowjeti-
scher Planwirtschaft. Eine Schließung der
Fabrik aber kam nie infrage. Schließlich hat-
ten die Sowjets neben dem Werk eigens eine
Großstadt errichtet. Noch heute ist Toljatti an
der Wolga mit seinen 700 000 Einwohnern
abhängig vom Arbeitgeber Lada.
Der zweite Versuch hieß »Strategie 2020«.
In das Zentrum der Autopolitik rückten statt
Lada Volkswagen, Ford und Toyota. Putin
umgarnte Konzernlenker und brachte sie
dazu, in Russland Fabriken zu errichten. Für
neue Standorte gab es Steuernachlässe, auf
Importwagen dagegen erhob das Land hohe
Zwangsabgaben.
Die Strategie ging auf, für den Kreml
jedenfalls. In Kaluga, Moskau und Sankt
Petersburg entstanden neue Zentren der
Autoindustrie. Im Schlepptau der Autobauer
kamen die großen Zulieferer: Bosch, Conti-
nental, Schaeffler. Selbst Lada bekam mit
Renault-Nissan einen westlichen Partner. Und
obwohl in Toljatti von Jahr zu Jahr immer
weniger Fahrzeuge vom Band rollten, schwoll
die Zahl der in Russland hergestellten Autos
stetig an, von 1,2 Millionen im Jahr 2000 auf
zuletzt 1,6 Millionen Fahrzeuge.
Für große Autonationen wie China oder
Deutschland ist das nicht viel. Für Russland
war es aber der größte industriepolitische
Erfolg seit den Neunzigerjahren. Rund
600 000 Menschen sind bei den Autobauern
angestellt.
Ob sie allerdings dort auch derzeit beschäf-
tigt sind, ist eine ganz andere Frage. Die meis-
ten Autofabriken in Russland haben den Be-
trieb eingestellt. »Selbst wenn wir jetzt wieder
produzieren wollten, wir könnten es schlicht
nicht«, sagt ein Insider in der VW-Zentrale in
Wolfsburg.
Bitter sind die Aussichten für Renault: Die
Franzosen haben zwei Milliarden Euro in das
Russlandgeschäft gesteckt. Nun hat das Unter-
nehmen angekündigt, seinen Lada-Anteil für
einen symbolischen Preis einem staatlichen
Autoinstitut zu überlassen. Die Rede ist von
einem Rubel, umgerechnet sind das 1,4 Cent.
Was wie ein Coup für die russische Seite
wirkt, ist in Wahrheit ein Rückschritt.
»Die russische Autoindustrie braucht west-
liche Partner, um zukunftsfähige Autos zu
bauen«, sagt Stefan Bratzel, Direktor des
Center of Automotive Management. Ohne
Konzerne wie Renault, Volkswagen oder Mer-
cedes bewegten sich die Russen »auf dem
technologischen Stand der Nachkriegszeit«.
Verbliebene Partner wie China könnten
den Exodus allenfalls zum Teil ausgleichen.
Zwar verfügt auch das Reich der Mitte über
eine aufstrebende Autobranche. »Anders als
die Europäer dürften die Chinesen kaum be-
reit sein, größere Summen in russische Indus-
triestandorte zu stecken«, sagt Bratzel.
Der Know-how-Verlust hat auch Auswir-
kungen in Bereichen, in denen Russland sich
unabhängig wähnte. Das Land ist stolz darauf,
sich mittlerweile selbst mit den wichtigsten
Lebensmitteln versorgen zu können. Die Wei-
zenproduktion ist binnen einem Jahrzehnt
um mehr als 30 Prozent gestiegen, die Käse-
produktion boomt.
Doch auch das moderne Agrargeschäft ba-
siert auf grenzüberschreitender Arbeitstei-
lung: Große Teile des Saatguts stammen aus
dem Ausland, bei Zuckerrüben sind es fast
100 Prozent. Die Fischfarmen an der Grenze
zu Finnland beziehen 80 Prozent des Futters
aus Skandinavien.
Selbst das Gasgeschäft ist betroffen: Jen-
seits des nördlichen Polarkreises errichtet
der Novatek-Konzern für 15 Milliarden
Euro Anlagen für den Export von Flüssiggas.
Von vier Terminals wollte Novatek we-
nigstens eines mit russischem Know-how
aus statten. »Arktische Kaskade« heißt die
Technologie. Sie erwies sich allerdings als so
fehleranfällig, dass das Unternehmen auf
westliche Technik zurückgreifen wollte. Dann
kam der Krieg, jetzt muss es die »Arktische
Kaskade« richten.
Auch aus der Ölförderung mussten sich
westliche Spezialfirmen zurückziehen. In den
nächsten Jahren werde die Öl- und Gaspro-
duktion deshalb leiden, glaubt Russland-
experte Kluge. Das Land werde mittel- bis
langfristig ärmer werden.
Der Prozess ist indes schleichend, das hilft,
die Auswirkungen der Sanktionen erst einmal
abzufedern. Die Frage ist, ob die Entwicklung
nicht dennoch politische Folgen hat. Die In-
flation könnte bis Ende des Jahres bei 22 Pro-
zent liegen. Was, wenn die Preise weiter stark
steigen und Betriebe ihren Mitarbeitern erst
die Gehälter kürzen und dann Stellen strei-
chen: Bekommt der Kreml dann den Unmut
seiner Bürger zu spüren?
Viele Deutsche bringt jede Spritpreiserhö-
hung in Wallung. Die Russen sind Kummer
so gewohnt, dass sie daran kaum Anstoß
nehmen – jedenfalls solange sich irgendwie
argumentieren lässt, schuld seien die Ameri-
kaner. Die Duldsamkeit seiner Landsleute
eröffnet Putin Spielräume, von denen west-
liche Politiker nur träumen können. 2014
ertrugen die Bürger ohne großes Murren,
dass im Sog des Ölpreisverfalls erst der Rubel
abschmierte und in der Folge die Gehälter
fielen. Das durchschnittliche Gehalt schnurr-
te damals von umgerechnet 900 Dollar im
Monat auf 550 Dollar zusammen und hatte
das Vor krisenniveau bis Kriegsbeginn noch
nicht wieder erreicht.
Nun zeichnet sich Ähnliches ab. Zentral-
bankerin Nabiullina hat die Inflationsbe-
kämpfung aufgegeben und die Leitzinsen
überraschend deutlich gesenkt, um die Wirt-
schaftsleistung zu stabilisieren. Den Preis
dafür zahlen die Bürger.
Auch dieses Mal stünden die Chancen
schlecht, dass sich der Unmut der Russen
gegen den Kreml richtet, glaubt der Mos kauer
Ökonom Nikolaj Kulbaka. Sozialer Protest
habe nur dann Aussicht auf Erfolg, »wenn
sich eine Gruppe in der Elite findet, die ihn
sich zu eigen macht.« Dafür aber sitze Putin
zu fest im Sattel.
Zum anderen sei die Masse der Bürger noch
immer so arm, dass sie gar nicht auf die Idee
einer Rebellion kämen. Selbst im Vergleich zu
Sowjetzeiten hätten die meisten Russen in den
vergangenen Jahren wenig gewonnen, wes-
halb sie kaum Schmerz über die neuerlichen
Verluste spüren könnten. Eines zeichne das
russische Volk aus: »Es weiß, wie man über-
lebt, und das unter allen Umständen.«
Benjamin Bidder, Simon Hage n
Präsident Putin
am Lenker einer
Ural bei einer
Motorradshow in
Sewastopol 2019
Alexei Druzhinin / Sputnik / epa