Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

24 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


CHAPPATTES WELT


Replik an die


Republik


SO GESEHEN Bürger
schreiben – das
Kanzleramt antwortet.

Sehr geehrte/r Frau/Herr,
liebe/r Mitbürger/in,
der Bundeskanzler hat mich
gebeten, mich bei Ihnen in sei-
nem Namen für Ihren offenen
Brief zu bedanken. Er ist gera-
de sehr mit Regierungshandeln
beschäftigt und kann daher
leider nicht jedem Unterzeich-
ner und jeder Unterzeichnerin
persönlich antworten. Ich darf
Ihnen aber ausrichten, dass
der Bundeskanzler sich über-
aus über Ihr Interesse an Poli-
tik freut. Dieses bürgerschaft-
liche Engagement ist ein Zei-
chen gelebter Demokratie und
Voraussetzung unserer gemein-

schaftlichen Willensbildung.
Ihr Brief, Ihre Unterschrift ist
dafür ein wichtiger Beitrag.
Ich darf Ihnen insofern mit-
teilen, dass der Bundeskanzler
Ihre Stimme hört und auch
in seine Erwägungen miteinbe-
zieht – das allerdings selbst-
verständlich stets im Rahmen
der Interessen der Bundesre-
publik Deutschland sowie ihrer
Verbündeten und vor dem
Hintergrund unserer histori-
schen Verantwortung. Beides
ist Grundlage jedes Regie-
rungshandelns des Bundes-
kanzlers der Bundesrepublik
Deutschland.

Was nun die in Ihrem offe-
nen Brief aufgeworfene Frage
der Lieferung schwerer Waffen
an die Ukraine betrifft: In die-
ser Sache darf es kein über-
stürztes Zögern geben, auch
abwartender Aktionismus
wäre fehl am Platz. Seien Sie
also versichert, dass der Bun-
deskanzler Ihre Position aus
den oben genannten Gründen
vollumfänglich teilt und sich
mit ganzer Kraft für deren
Umsetzung einsetzen wird.
Mit freundlichen Grüßen
MR Oliver Tünkel-Zerrstraub
Ref. 622 Bundeskanzleramt
Stefan Kuzmany

BKA bleibt draußen


ERMITTLER Deutschland will
der Ukraine bei der Untersu-
chung mutmaßlicher russischer
Kriegsverbrechen helfen. Laut
Bundesinnenministerium berei-
tet das Bundeskriminalamt
(BKA) »eine umfangreiche ma-
terielle Unterstützung der Ukra-
ine durch Forensikausstattung
vor«, erste Materialien und
Geräte seien bereits unterwegs.
Die Ukraine hatte um Hilfe
gebeten. Doch anders als Frank-
reich, das im April Forensik-


experten zur Untersuchung der
Gräueltaten in Butscha entsandt
hat, sollen keine BKA-Spezia-
listen ins Kriegsgebiet geschickt
werden. Wie aus internen Do-
kumenten hervorgeht, hält Ber-
lin das Sicherheitsrisiko für
zu groß. Stattdessen könne das
BKA der Ukraine etwa durch
Schulungen zur Opferidentifi-
zierung in Deutschland oder
einem Nachbarland der Ukraine
helfen. Auch Untersuchungen
von Leichen oder Beweismitteln
könnten dort erfolgen. Thorsten
Frei, Erster Parlamentarischer

Geschäftsführer der Unions-
fraktion, reicht das nicht. »Wir
sollten nicht hinter Frankreich
zurückstehen und gleichfalls
entsprechende Spezialisten ent-
senden«, sagte er – wenn die
Ukraine dies wünsche und der
Einsatz verantwortbar sei. Ähn-
lich sieht es Grünen-Fraktions-
vize Konstantin von Notz: »Wir
sollten die Ukraine auch bezüg-
lich der Aufklärung möglicher
Kriegsverbrechen noch mehr
Unterstützung zukommen las-
sen.« Auch Hilfe vor Ort solle
geprüft werden. WOW

Rechte Pazifisten


PARTEIEN Im Streit um die Lie-
ferung schwerer Waffen an die
Ukraine versucht die AfD zu-
nehmend, sich als rechte Frie-
densbewegung zu profilieren. In
einem internen Rundschreiben
schwört AfD-Chef Tino Chru-
palla die Mitglieder auf einen
pazifistischen Kurs ein und er-
klärt die AfD zur »Partei des
Friedens für Europa«. Chrupal-
la begründet den Vorstoß mit
der Stimmungslage unter den
AfD-Anhängern. Laut Umfra-
gen seien drei Viertel gegen die
Lieferung schwerer Waffen.
Man dürfe »nicht zulassen«,
dass die Regierungen Europas
wie 1914 »in einen Weltkrieg hi-
neinstolpern«. Zugleich wettert
der Chef der in weiten Teilen
als russlandfreundlich geltenden
AfD gegen die Grünen. Die
»Pazifisten von früher« seien
»Kriegstreiber«, die ihre Werte
der »gesamten Welt aufzwingen
wollen«, behauptet Chrupalla.
Parteiintern ist sein Kurs indes
umstritten. Im Bundestag
stimmten vier teils prominente
AfD-Parlamentarier kürzlich
für deutsche Waffenlieferungen,
darunter der frühere Vizepartei-
chef Albrecht Glaser. Drei wei-
tere AfD-Abgeordnete enthiel-
ten sich, sieben nahmen an der
Abstimmung gar nicht erst teil.
In sozialen Medien wurde das
Verhalten der Abweichler scharf
kritisiert. Ein sächsischer AfD-
Kommunalpolitiker drohte mit
Blick auf den Bundesparteitag
im Juni: »Merkt Euch die Na-
men.« SEV
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