DEUTSCHLAND
26 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
Z
u anderen Zeiten hätte es Cem Özdemir
vielleicht beim gemeinsamen Fasten-
brechen belassen. Vertreter des Islam
und des Judentums in Deutschland sind an
diesem Aprilabend ins Landwirtschaftsminis-
terium gekommen, dazu Intellektuelle, Wis-
senschaftler, Politiker. Man wartet gemeinsam
auf den Sonnenuntergang. Man lauscht dem
Gebet, isst zusammen und plaudert über
islamische Gelehrte und das Fasten.
Aber weil man in diesen Tagen schwer über
das Fasten reden kann, ohne über den Hunger
zu sprechen, ist auch Jochen Brühl eingela-
den. Brühl ist Chef des Dachverbands der
Tafeln, Deutschlands oberster Armenspeiser.
»Es ist Monatsende, und viele Menschen ha-
ben in diesen Tagen kein Geld mehr, um sich
Lebensmittel zu kaufen. Vor allen Dingen
keine frischen oder gesunden«, sagt er.
Er habe, erzählt er, eben eine Tour durchs
Land gemacht. »Ich war diese Woche unter
anderem in der Nürnberger Tafel, die norma-
lerweise im Monat 5000 Menschen mit Le-
bensmitteln unterstützt. Das sind jetzt 10 000.
Und die Anzahl der mit Lebensmitteln Hel-
fenden ist gleich geblieben.«
Es sind keine guten Jahre für die deutsche
Wirtschaft und schon gar nicht für die Ärms-
ten des Landes. Die Pandemie hat die Unter-
nehmen aus dem Takt gebracht. Bauteile feh-
len, Container sind Mangelware, die Produk-
tion ist gestört. So wird alles knapper, und
wenn Güter knapper werden, steigen die
Preise. Die Klimakrise verstärkt weltweit
Dürren und lässt die Kosten für Getreide wei-
ter nach oben schießen. Der Krieg in der
Ukraine beschleunigt diese Entwicklung:
Treibstoffe fehlen, Düngemittel, aber auch
Lebensmittel wie Getreide und Öle.
Mehr als 600 000 Menschen sind außer-
dem seit der russischen Invasion nach
Deutschland gekommen. Auch wenn die Ge-
flüchteten prinzipiell arbeiten dürfen, sind
viele erst einmal auf staatliche Unterstützung
angewiesen. Das ist die unmittelbarste sozia-
le Folge des Krieges, aber nicht die einzige.
Besserung ist nicht in Sicht. Sollten die
Knappheiten bleiben und die Inflation weiter
steigen, könnten sich Notenbanken sogar ge-
zwungen sehen, mit immer höheren Zinsen
ihre eigene Wirtschaft abzuwürgen. Es könn-
Verwalter des Mangels
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Kay Nietfeld / dpa