DEUTSCHLAND
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 39
N
och in seinen Erinnerungen
schwärmte Helmut Kohl von
der längsten Dienstreise seiner
Kanzlerschaft. Elf Tage Südamerika
- »Exotisch« sei es gewesen, erst-
mals habe er den »mächtigen Amazo-
nas« gesehen. Und dann die Themen.
Der tropische Regenwald und die Ar-
mut auf der Welt – »das Überleben
der nächsten Generationen« habe auf
seiner Tagesordnung gestanden.
Das wird so gewesen sein, und
doch ist diese Version unvollständig,
denn der langjährige Kanzler und
CDU-Vorsitzende plauschte auf sei-
nem Trip nicht nur über Künftiges. Es
ging auch um die Aufarbeitung der
Vergangenheit: was mit Erich Hone-
cker geschehen solle, dem gestürzten
DDR-Chef. Und weil Diplomaten des
Auswärtigen Amts vieles mitschrei-
ben, was ein Kanzler bei offiziellen
Besuchen so sagt, und diese Vermer-
ke nach 30 Jahren teilweise veröffent-
licht werden, lässt sich heute ein klei-
nes Rätsel der Zeitgeschichte lösen*.
Kohl trieb auf der Südhalbkugel
das Schicksal Honeckers um. Gegen
den langjährigen SED-Generalsekre-
tär lag ein Haftbefehl vor, er sollte
sich wegen der Toten an der inner-
deutschen Grenze verantworten. Ho-
necker lebte in Moskau, offiziell ver-
langte die Bundesregierung vom
Kreml seine Auslieferung. Es sei eine
»elementare Frage der Gerechtig-
keit«, dass nicht »Haupttäter« wie
Honecker davonkämen und junge
Soldaten, die an der Grenze geschos-
sen hätten, verurteilt würden – so
sagte Kohl es am 21. Oktober 1991
zu Chiles Präsidenten Patricio Al-
wyn, in dessen Land Honeckers
Tochter mit ihrer Familie lebte. Kohl
hielt Honecker vor, dieser habe nicht
»Keineswegs
unsympathisch«
ZEITGESCHICHTE Helmut Kohl zeigte
überraschend Mitgefühl für Erich Honecker.
Wollte er dem gestürzten DDR-Chef einen
Prozess ersparen?
Klaus Wiegrefe n
den Mut, »sich der deutschen Justiz
zu stellen«.
Schon die Zeitgenossen rätselten,
ob Kohls Regierung damals wirklich
an einer Strafverfolgung interessiert
war, weil er sein Desinteresse kaum
verbarg. Die neuen Dokumente er-
möglichen nun Einblicke in seine Ge-
dankenwelt. Laut Vermerk vertraute
er dem chilenischen Christdemokra-
ten Alwyn an, ihm wäre am liebsten,
eine Auslieferung käme nicht zustan-
de: »Wenn Honecker in Moskau blei-
be, hätten die Chilenen kein Problem,
und wir auch nicht«, heißt es. »Er –
der Bundeskanzler – sei nicht auf
Rache erpicht.«
Der 79-jährige Honecker wollte sei-
nen Lebensabend am liebsten bei seiner
Tochter in Chile verbringen. Alwyn ver-
weigerte ihm jedoch die Einreise, zum
Ärger von Chiles Sozialisten, die sich
in Honeckers Schuld wähnten; dieser
hatte ihnen während der chilenischen
Militärdiktatur großzügig Asyl in der
DDR gewährt. Kohl kam dies zupass,
ein Rentnerdasein Honeckers in Chile
fand er unangemessen: Das würde »in
Deutschland niemand verstehen«.
Der Kanzler schlug ernsthaft vor,
die chilenischen Sozialisten sollten
für Honecker »Geld sammeln, damit
er in Moskau ordentlich leben« kön-
ne. Kohl ging vom Ende des kom-
munistischen Parteiapparats in der
Sowjetunion aus und vermutete, dass
anschließend Honeckers Geldquellen
versiegten. Ein Leben in Armut – das
mochte Kohl dem greisen Feind von
einst dann doch nicht zumuten.
Das Verhältnis der beiden war
schon immer zwiespältig gewesen.
Honecker sei ein »Kommunist reins-
ten Wassers«, aber ansonsten »kei-
neswegs unsympathisch«, fand Kohl.
Ihre Geburtsorte lagen nur hundert
Kilometer voneinander entfernt;
Kohl witzelte bei ihrem ersten Treffen
in Moskau 1984, wenn sie Dialekt
miteinander sprächen, könne sie beim
Abhören niemand verstehen.
Nach dem Untergang seines Re-
gimes kam der an Krebs erkrankte
Honecker im sowjetischen Armee-
hospital Beelitz bei Potsdam unter,
was die Regierung Kohl stillschwei-
gend hinnahm. Und Kohl unternahm
auch nichts, als die Sowjets ihn am
- März 1991 informierten, dass sie
am selben Vormittag Honecker mit
einer Militärmaschine nach Moskau
fliegen würden – trotz des Haftbe-
fehls.
Die Sowjets verfügten noch über
ein mächtiges Druckmittel. Der Zwei-
plus-vier-Vertrag zwischen den Sie-
germächten des Zweiten Weltkriegs
und den deutschen Staaten regelte die
Souveränität des geeinten Deutsch-
land, war jedoch noch nicht in Kraft
getreten. Die Sowjets überreichten
ihre Ratifikationsurkunde zwei Tage
nach Honeckers Ausreise.
Zudem hatte Kohl nicht vergessen,
dass Kremlchef Michail Gorbatschow
auf dem Höhepunkt der Verhand-
lungen über die Einheit 1990 indirekt
um Milde für Honecker und seines-
gleichen gebeten hatte. Mit der Über-
siedlung nach Moskau schien das
Problem gelöst. Kohl ging fest davon
aus, wie er zu Alwyn sagte, dass die
Russen ihren jahrelangen Verbünde-
ten schützen würden. Und so kam es,
dass am Tag des Gesprächs, in dem
Kohl in Santiago de Chile sein Des-
interesse an einer Auslieferung offen
aussprach, rund 14 100 Kilometer
Luftlinie entfernt Justizminister Klaus
Kinkel in Moskau vorstellig wurde –
und einmal mehr verlangte, Honecker
zu überstellen. Vergebens.
Am Ende kam dann doch alles an-
ders, als der Kanzler es in Südameri-
ka forciert hatte. Honecker musste
im Juli 1992 zurück nach Berlin, weil
sich Gorbatschows Nachfolger Boris
Jelzin nicht weiter mit seinem Fall
belasten wollte. Das Berliner Land-
gericht verhandelte wenige Tage lang
gegen den inzwischen Todkranken,
dann stellten die Richter das Verfah-
ren ein. Honecker machte sich flugs
auf nach Chile, wo er 1994 verstarb.
Das wiederum dürfte Kohl nicht
überrascht haben. Er hatte schon im
Gespräch mit Alwyn vermutet, dass
sein ostdeutscher Rivale selbst bei
einer Rückkehr nach Deutschland
nicht im Gefängnis landen werde,
Honecker sei zu alt und zu krank.
Politiker Honecker,
Kohl in Moskau
1984: »Nicht auf
Rache erpicht«
* Institut für Zeitgeschichte (Hg.): »Akten zur
Aus wärtigen Politik der Bundesrepublik Deutsch-
land 1991«. De Gruyter Oldenbourg; 2 Bände;
1906 Seiten; 154,95 Euro. Eastblockworld.com