Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 45

»Es wäre schön, wenn die Leute mehr auf
uns aufpassen würden«, sagt Nena. Ihr fehlen
die kleinen Dinge des Alltags: Sie würde gern
mal wieder mit ihrer Mutter einkaufen gehen
oder mit ihrer besten Freundin auf den In-
door-Spielplatz. Wenn sie einmal groß ist, will
sie einen Gnadenhof für Tiere eröffnen. »Ge-
sunde und kranke Kinder sollen dort Urlaub
machen«, sagt sie. »Ich wünsche mir, dass sich
alle vertragen.« Es stimme sie traurig, dass
sich die Erwachsenen in der Pandemie so we-
nig um kranke Kinder kümmerten.
Im vergangenen Sommer sei es noch ein
Abenteuer gewesen, im eigenen Garten zu
zelten oder im Wohnzimmer zu picknicken,
erzählt ihre Mutter. Aber es wird immer
schwerer. »Natürlich belastet Nena die Ein-
samkeit«, sagt Just. »Vor Kurzem hat sie mich
gefragt, ob sie wieder normal leben kann,
bevor sie alt und grau ist.« Solange die Infek-
tionszahlen hoch und die Maßnahmen lasch
sind, sieht Just keine Alternative zur Isolation.
Just hat ihre Tochter schon einmal fast
verloren. Neun Monate nach ihrer Nieren-
transplantation Ende 2015 erlitt Nena einen
Schlaganfall. Sie lag im künstlichen Koma und
musste nach Wochen im Krankenhaus wieder
sprechen und laufen lernen.
Jasmin Just fällt es schwer, ihrer Tochter
seit zwei Jahren vermitteln zu müssen, dass
Mitmenschen eine potenzielle Gefahr dar-
stellen. Beim Spazieren tragen die beiden ihre
Maske unter dem Kinn, um sie schnell hoch-


ziehen zu können, wenn sich jemand nicht an
den Abstand hält. »Das macht mich manch-
mal richtig wütend, wenn Leute keine Rück-
sicht nehmen«, sagt Just.
Auch das Einkaufen belaste sie neuerdings.
Zwar schütze sie sich mit einer FFP3-Maske,
aber das Restrisiko bleibe. »Ich habe wirklich
Angst, das Coronavirus mit nach Hause zu
bringen«, sagt Just. Sie plane die Einkäufe
akribisch und laufe zügig durch den Super-
markt.
Der Wegfall der Maskenpflicht ist aber
nicht nur für Risikogruppen ein Problem, son-
dern auch für ihre Ärzte. Philipp Aubele, 40,
Onkologe, versorgt Krebspatienten im baye-
rischen Cham. Kurz nachdem die Masken-
pflicht gefallen war und Diskotheken wieder
eröffnet hatten, fiel ein großer Teil seines Per-
sonals aus. »Ich habe nur noch geschaut, wie
ich Lücken stopfen kann«, sagt Aubele. »Wir
hatten einfach keine Arzthelferin mehr durch
die Coronainfektionen.« Morgens habe er mit

Schichtplänen jongliert, abends sei er er-
schöpft ins Bett gefallen. »Oft kam gleich in
der Früh die nächste WhatsApp: Ich bin posi-
tiv, ich kann nicht kommen.«
Über Wochen war die Behandlung der
Krebspatienten am Limit, drei Tage musste
die Praxis schließen. Der Onkologe stand
nicht mehr vor der Frage, wer welche The-
rapieform braucht, sondern musste entschei-
den, wer mit einem Aufschub klarkommt.
»Es ging mir wirklich schlecht in der Zeit«,
sagt Aubele. »Es war schwierig, einigen Pa-
tienten zu sagen, dass die Chemotherapie
ausfallen muss.«
Seit Mitte April sei der Engpass über-
standen, die Sorge um die Gesundheit seiner
Patienten aber ist geblieben. »Einige meiner
Patienten sind an Corona verstorben«, sagt
Aubele. Bei einer Grippe fielen Erkrankte mal
ein oder zwei Wochen aus, bei Corona seien
es schnell vier oder fünf Wochen ohne Che-
motherapie. »Ich sitze fast täglich immun-
geschwächten Patienten gegenüber, das ist
eine große Verantwortung«, sagt Aubele. In
Geschäften trage er weiter seine Maske, auch
wenn ihn die Leute manchmal komisch dabei
anschauten. »Ich kann es mir nicht leisten,
die Infektion in die Praxis zu tragen.«
Vulnerable Gruppen haben keine starke
Lobby. Es gibt nur wenige, die sich für ihre
Belange einsetzen. »Diese Familien haben
sich ihr Schicksal nicht ausgesucht und wer-
den in der Pandemie oft vergessen«, sagt Jür-
gen Dusel, der Behindertenbeauftragte der
Bundesregierung. Die Eltern vorerkrankter
oder behinderter Kinder müssen zur Arbeit
und in die Apotheke. Manch ein Vater oder
eine Mutter arbeite an der Supermarktkasse
oder räume Regale ein. »Die Menschen sind
darauf angewiesen, dass wir alle solidarisch
sind«, sagt Dusel.
Seit zwei Jahren schultern die Familien
vorerkrankter Kinder eine enorme Last. Ge-
schwisterkinder werden aus Angst vor einer
Infektion oft aus der Schule genommen, nicht
selten riskiert dabei ein Elternteil den Job
oder muss ihn aufgeben. Gleichzeitig stiegen
die Kosten für Handschuhe, Desinfektions-
mittel und Masken. Gerade für vulnerable
Gruppen sind sie unerlässlich.
Jasmin Just hat es irgendwann aufgegeben
auszurechnen, wie hoch die Summe ist, die
sie schon aus der eigenen Tasche in Schutz-
maßnahmen für Nena investiert hat. Etliche
Tausende Euro seien es sicher gewesen. Die
Familie teste sich jeden Tag, außerdem kaufe
sie zusätzliche Masken und Tests für das
Pflegepersonal von Nena. Als das Geld knapp
geworden sei, hätten sie die Reserven ihrer
Altersvorsorge angreifen müssen.
In den vergangenen zwei Jahren habe sie
nicht arbeiten können, weil sie Nena zu Hause
beschult. Sie würde gern einfach mal wieder
vor die Tür gehen, ohne an etwas denken zu
müssen. »Wir sind jetzt bald auf null«, sagt
Jasmin Just. »Ich habe keine Ahnung, wie es
weitergehen soll.«
Katrin Langhans n

Tochter Nena: »Ich vermisse meine Freundinnen«


Sie darf nur auf den
Spielplatz, wenn dort
sonst niemand spielt –
das Risiko ist zu hoch.

Marvin Menné / DER SPIEGEL
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